Die kluge Katrin

Eine Sage aus dem Thüringer Land

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Eine Illustration von Rudolf Köselitz
Repro: Ulrich Göpfert

Dort, wo Thüringer Wald und Frankenwald sich vereinen, lebte auf einem kleinen Bergbauernhof einst ein junges, schönes Mädchen. Eltern und Geschwister waren von einer Seuche dahingerafft worden, und so bearbeitete sie allein mit einem alten Knecht ihr kleines Gut. Sie hielt es recht instand mit stetem Fleiß, die junge Katrin, und war darum wohl geachtet bei den Bergbauern wie auch bei den Bürgern der Amtsstadt Grevinthal, wohin sie mit den Erträgen ihrer Wirtschaft zu Markte fuhr. Jedermann, der sie kannte, mochte das schöne und freundliche Mädchen gut leiden und kaufte gern von ihrer Ware.

Über der kleinen Bergstadt thronte die Burg der Wespensteiner; die geboten über Stadt und Land, Dörfer und Weiler im weiten Umkreis. Auch Berge, Wälder und Fischwasser ringsum hatten sie sich zu eigen gemacht, und da die alte Handelsstraße, die Nord und Süd verband seit dem Jahr eintausend schon, durch dieses Gebiet führte, forderten sie auch Wegegeld von allen Warenzügen. So waren es die vom Wespenstein gewöhnt seit eh und je, und darum erstaunte der regierende Herr sehr, als ihm einmal etwas verweigert wurde, wonach ihm der Sinn stand. Und noch dazu von einer Bauerndirne! Zwar war sie keine Hörige, die Waldbauerngeschlechter droben im Gebirge hatten sich ein größeres Maß an Freiheit bewahrt als die Thüringer Bauern im Allgemeinen, doch gehörten auch sie zur Herrschaft Grevinthal und waren deren Spruch unterworfen.

Der Wespensteiner, ein älterer Witwer, hatte großen Gefallen an der schönen Katrin vom Waldhof Lichtenstein gefunden. Seidenes Gewand versprach er ihr, goldene Spangen und Ketten und alle Tage Gesottenes und Gebratenes und Honigküchlein auf den Tisch. Und keinen Finger brauchte sie zur Arbeit zu rühren, wie ein Fräulein wollt er sie halten. Katrin lachte. Sie wolle nicht eingesperrt sein in ein steinernes Haus, sie brauche Wind und Wald um sich, und erst recht nicht stehe ihr Sinn danach, eine Buhldirne zu sein. Wenn sie schon einem Manne gehöre und ihm ganz zu Eigen sein solle, dann einem jungen, der ihr gefiele - und in Ehren! Bei diesen Worten blitzte sie mit ihren dunklen Augen den Ritter zornig an; sie sei eine Freie und keine hörige Magd.

Der Wespensteiner, enttäuscht und wütend zwar, konnte sich nicht entschließen, die Aufsässige zu strafen; er ritt davon, ohne ihr noch ein Wort zu gönnen. Zu Hause beriet er mit seinem Kaplan, einem gerissenen Jesuiten. Der fand bald eine Möglichkeit, wie man auch eine Freie zwingen konnte, freiwillig hörig zu werden. So ritt der Wespensteiner ein zweites Mal die Höhe von Lichtenstein und stampfte klirrend durch die niedere Tür des Bauernhauses, indes sein Knappe im Hof bei den Pferden wartete. Die Katrin stand schlank und schön, das goldbraune Haar in schweren Zöpfen um das schmal geschnittene Gesicht gesteckt, stumm und in gespannter Erwartung. Der abermalige Besuch des Ritters konnte nichts Gutes bedeuten. "Mein Kind", sagte der Ritter freundlich, "du wirst dich jetzt meinem Willen fügen, oder du sollst als Hexe brennen, bei meinem Wort!" Alles Blut wich aus Katrins Gesicht. Sie wusste: Wenn der Wespensteiner wollte, dass sie als Hexe brenne, dann würde es geschehen.

Welche Verdächtige bekannte nicht unter der Folter alles, was sie bekennen sollte! Ihre Lippen begannen zu beben. "Bedenkzeit, Herr - gebt mir eine Stunde Bedenkzeit!" Der Ritter lächelte in seinen Bart. "Die sollst du haben, Katrin", sagte er, trat aus der Tür und ritt mit seinen Begleitern waldwärts. Katrin saß wie erschlagen auf der Bank. Zwei Wege gab es noch für sie: den der Schande und den des Todes. Allmählich wurde Katrin ruhiger. Klar arbeitet nun ihr Verstand. Als der harte Tritt des Wespensteiners wieder auf dem Hofe klang und der Mächtige, seines Sieges sicher, in die niedere Bauernstube trat, fand er eine völlig verwandelte Katrin. Sie lächelte den Ritter freundlich an und bat gar demütig, ihm eine Bitte vortragen zu dürfen. Das dürfe sie, krähte der verliebte Alte.

Katrin bat aber um nichts als um eine kurze Frist; danach wolle sie dem Herrn gern und willig folgen. Er solle sie nur noch so lange auf dem Hof lassen, bis die Ernte ihrer Äcker, die sie in den nächsten Tagen besäen werde, eingebracht sei. Der Verliebte konnte schließlich nicht widerstehen und gab nach. Es war ja nur noch ein Sommer, der ihn von dem erstrebten Ziel trennte, und eine Buhle, die freiwillig und dankbar kam, war besser als eine gezwungene und vor allem besser als eine verbrannte Hexe. Katrin nahm das Kreuz von der Wand und ließ den Ritter darauf schwören, dass sie erst dann zu Willen zu sein brauchte, wenn sie die Frucht dieser letzten Saat eingebracht habe. Auf ihr Verlangen hin schwor er auch, dass er sie stets beschützen wolle, wenn sie ja einer als Hexe anklagen würde. Zum Zeugen war der Knappe herbeigerufen worden.

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Foto: © Ulrich Göpfert

Als Monate später der Herbstwind über den Kamm des Thüringer Waldes brauste und die Stoppelfelder der Bergbauern fahl in der müden Oktobersonne lagen, kam der Burgherr vom Wespenstein mit Gefolgsleuten und Knechten den schmalen Hohlweg herauf geritten, der nach Lichtenstein führte, um sich die schöne Katrin zu holen. Sie stand scheinbar auch schon bereit im dunklen Festtagsgewand an der Grenze ihrer Felder.

Doch war hier gewiss nichts geerntet worden. Keine Garbenpuppen standen, wie auf noch so manchem Acker anderer Bauern, auch waren keine Stoppeln zu sehen. Braun lagen Katrins Felder, und nur winzige, dunkelgrüne Spitzen schauten aus der Erde. Es waren zarte Schösslinge, aus Tannensamen aufgegangen, und es würde wohl viele Jahre dauern, bis die einmal Frucht trugen - ganz gewiss sehr viel mehr Zeit, als der alte Wespensteiner noch zu leben hatte.

Der Eid war geschworen, der Knappe wusste darum - also war nichts zu ändern. Fluchend riß der Wespensteiner sein Pferd herum und preschte talwärts. Die kluge Katrin blieb fortan unbehelligt. Langsam wuchs der Tannenwald um sie und ihre Hütte. Sie war arm geworden, weil ihre Äcker keine Frucht mehr brachten, doch sie war frei geblieben, und ihren Kindeskindern würde der Wald, der auf ihrem Feld wuchs, auch einmal Nutzen bringen. Sie nahm sich einen jungen Bauern aus Lichtenhain zum Manne und lebte mit ihm das einfache Leben der Bergbauern zufrieden bis an ihr Ende.

Quellenhinweis: Bechstein, Thüringer Sagenbuch, Coburg 1858

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