„Hiroshima“

 „Hiroshima“
Eine Episode von Joachim Kortner, Coburg
aus seinem Roman „Raststraße“

Vor einigen Tagen hat mir Herr Joachim Kortner aus Coburg ein Erlebnis aus seinem Roman „Raststraße“ aus der Perspektive eines zwölfjährigen Jungen autobiographisch thematisiert, das ich sehr gerne auf meiner Internetseite veröffentliche. Herzlichen Dank dafür! 

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Auf diesem Foto vom Anfang der Fünfziger Jahre des vorherigen Jahrhunderts besucht uns Kortners gerade ein "Vorkriegsbekannter" meines Vaters in Coburg, der frühere Theologiestudent Akira Ogihara, der inzwischen Bischof von Hiroshima geworden war. (Ich selbst stehe hinter dem Kopf des Bischofs)
Foto: 2012 © Joachim Kortner

„Hiroshima“

… Der Vater betont dabei immer die Silbe ro, lässt sich von den Söhnen nicht korrigieren. Die behaupten, in den Wochenschauen der Kinos werde das shi betont. Und weil er kaum ins Kino geht, ist er auch nicht zu bekehren. Die Jungen glauben, Hiroshima-Experten zu sein, seitdem sie im UT einen Vorfilm über diese Stadt gesehen haben.

   Im zweiten Parkett und aus der sicheren Flugzeugkanzel heraus. Das weiße, alles auslöschende Licht. Der unfassliche Atompilz. Irgendein General gratuliert dem Hiroshimapiloten und der ganzen Mannschaft. Alle stehen stramm, bekommen einen Orden. Alle lächeln in die Kamera. Eine Blaskapelle. Der silbrige Riesenbomber mit vier Propellern. Auf der Flugzeugnase zwei Wörter in Englisch. Jakob und Andi überfliegen Hiroshima im Tiefflug. Sie sehen noch, wo einmal Straßen waren. Eine zweite Bombe auf eine andere Stadt. Wie gern hätten sie noch einmal das weiße, alles auslöschende Licht und den gespenstischen Atompilz gesehen. Die Wandbeleuchtung hat das Union Theater wieder in ein sanftes Dämmerlicht getaucht. Feierlich schließt sich der schwere Samtvorhang.

   Die Kartenabreißerin ist in ihre zweite Rolle geschlüpft, bietet jetzt aus ihrem Bauchladen VIVIL Pfefferminz an. Keiner kauft ihr etwas ab. Im Kino kosten die nicht zehn, sondern zwanzig Pfennige. Ein fremder Mann aus der ersten Sitzreihe hat sich zu ihnen umgedreht. Dem Asiaten könne man sowieso nicht über den Weg trauen. Man brauchte sich nur seine hinterlistigen Schlitzaugen anzuschauen. Alle Japaner in einen Sack stecken und draufhauen. Da triffst du keinen Unschuldigen.

   Ein volltönender Gong. Der Samtvorhang gleitet auf. Andi reicht dem Bruder einen Karamelbonbon. Dunkelheit, dann der Projektionsstrahl. Ein Herz und eine Krone. Audrey Hepburn und Gregory Peck.

   Hiroshima wird vom Vater nicht nur anders betont. Es ist für ihn auch nicht nur ein anderes Wort für Atomblitz, Rauchpilz und Vernichtung. Jahre vor dem Krieg hatte er den Theologiestudenten Akira Ogihara kennen gelernt, bald darauf dem frisch geweihten Priester an einem Seitenaltar der Herz-Jesu-Kirche als Ministrant gedient. Er, als erwachsener Mann, Familienvater und Angestellter der Stadtsparkasse Oppeln.

   Mit dem Jesuiten hält er Kontakt, als der in Hiroshima die winzige katholische Gemeinde betreut. Die blassblauen Briefe aus federleichtem Luftpostpapier erreichen ihn auch jetzt wieder in Coburg. Mit argwöhnischer Verwunderung liest der Briefträger den Namen des exotisch klingenden Absenders, bevor er den Brief in den Gemeinschaftskasten des Hinterhauses steckt.

    Andächtig schiebt der Vater die kleine Klinge seines Taschenmessers in den Falz des blauen Umschlags. Botschaft aus dem Reich der Kirschblüte. Zum Lesen zieht er sich in eine Zimmerecke zurück, nickt bei gewissen Zeilen zustimmend. Das hier ist seine farbige Welt, in die er aus dem Grau von Zins und Zinseszins, Einzahlung und Abhebung wegtauchen kann. Er werde für ihn und seine ganze Familie Gottes Segen erflehen. So schließt der Japaner den Brief. Neben seine Unterschrift haucht er in wenigen Pinselstrichen zarte Blütenzweige hin. Eine spröde Bambusfeder hat noch einen geheimnisvollen Schriftzug in japanischen Zeichen dazu gesetzt. Jakobs misstrauische Spucke unterzieht die schwebenden Aquarelle und den Schriftzug einem Echtheitstest.

   Beigelegte Fotos mit gewellten Rändern. Ogihara auf Missionsreisen im eigenen Land. Kimonofrauen mit scheuem Lächeln, ihre Taufkinder in feste Bandagen geschnürt. Ministrantennachwuchs - gefaltete Hände und ernster Blick in das Kameraauge. Pater Ogihara im Kimono am Boden sitzend bei einer Teezeremonie.

   Fast ein halbes Jahr vergeht. Wo bleibt die Luftpost aus Hiroshima? Sogar der Briefträger wird neugierig, fragt Jakob, ob „euer komischer Japaner“ tot sei. Der Vater geht zur Post, erkundigt sich. Vielleicht ist etwas liegen geblieben. Schickt den zweiten Brief ab. Nach einem ewigen Monat ein blaues Kuvert. Es wird befühlt, gegen Tageslicht und Lampenbirne gehalten. Die Mutter legt den Brief in die heilige Glasvitrine, ungeöffnet. Alle müssen bis halb sechs warten. Um fünf hat der Vater Dienstschluss, sucht dann noch nach Sonderangeboten beim Tengelmann und Kaisers Kaffeegeschäft.

   Er zieht ein Foto aus dem Umschlag. Seine Lippen zucken. Dann gibt er das Bild aus der Hand. Pater Ogihara trägt die Bischofsmitra, hält den Hirtenstab. Ein Bischofsring an der feingliedrigen Hand. Darunter Akira Ogihara – Bishop of Hiroshima. Der Brief beginnt mit dem vertrauten Mein lieber treuer Freund Herrmann. Er bittet um Verständnis für die lange Schreibpause. Sein neues Amt, die Rundreisen von Pfarrei zu Pfarrei, die Idee einer Friedenskirche in Hiroshima. Alles Versäumte will er wieder gutmachen. Nach Deutschland will er kommen und den Freund in Coburg besuchen. Den Besuchstermin werde er ihm noch rechtzeitig schreiben. Die Mutter in Panik. Ein Bischof hier oben in der Mansarde. Die schiefen Wände. Die dunkle, stockfleckige Zimmerdecke. Das zusammen gestückelte Geschirr. Pfarrer und Kaplan einladen. Passen alle an den Ausziehtisch? Die Schlagsahne darf keinen Stich kriegen. Essen Japaner überhaupt Streuselkuchen?

Der Vater plant Anderes. Ich als kleiner Flüchtling bringe die weite Welt hierher. Ganz Coburg soll es sehen. Eine feierliche Pontifikalmesse in der Pfarrkirche. Am Altar links und rechts neben seiner Exzellenz der Pfarrer und der Kaplan. Feierlicher Ein - und Auszug. Die Orgel mit vollen Registern. So richtig mit den tiefen Basspfeifen. Pressefotografen. Zeitungsartikel. Vielleicht sogar sein Name im Coburger Tageblatt und der Neuen Presse. Die evangelischen Kollegen in der Sparkasse werden staunen. Werden auf ihn, den Stillen und Bescheidenen, zugehen.  Werden ihm sagen, dass sie den Artikel in der Presse gelesen haben. Vielleicht auch fragen, wie er dazu kommt, mit einer so prominenten Persönlichkeit aus dieser so besonderen Stadt befreundet zu sein.

   Herrmann hat sich für den Freitag beurlauben lassen. Er steht mit Pfarrer und Kaplan auf dem windigen Bahnsteig. Die Lokomotive hüllt sie in weiße Dampfstrahlen. Ihre Blicke tasten den einzigen Wagon der ersten Klasse ab. Hat er seinen Zug verpasst? Ist er irgendwo falsch umgestiegen? Der Japaner steht schon hinter ihnen auf dem Bahnsteig, hält einen Koffer in der Hand. Bei der Begrüßung kann er noch geschickt verhindern, dass Herrmann ihm den Bischofsring küsst. Mittelgroß, jungenhaft schlank, dichtes blauschwarzes, nach hinten gekämmtes Haar. Die Mandelaugen schließen sich beim Lächeln. Der lange schwarze Mantel verhüllt die Priestersoutane. Pfarrer und Kaplan reden langsam, überdeutlich. Er sagt ihnen akzentfrei, sie könnten ruhig normal sprechen. Er könne sie sonst schlecht verstehen. Herrmann nötigt ihm den Koffer ab. Er spürt seine Hand auf dem Oberarm. Pfarrer und Kaplan verabschieden sich, steigen in den grauen Käfer. Der Bischof lehnt ein Taxi ab. Laut und klar stimmt er „Das Wandern ist des Müllers Lust“ an, bricht ab und lacht wie ein Junge. Sie gehen die Bahnhofstraße entlang, biegen nach kurzer Zeit in die Raststraße ein. Am Zaun warten Andi und Jakob. Sie schauen verdattert, als der Mann mit dem Bronzegesicht sie fragt, ob sie wohl heute die Schule geschwänzt hätten.

Es gibt Streuselkuchen. Die Schlagsahne hat keinen Stich. Ein Wandbehang schirmt die dunkle Ecke mit den Schimmelflecken ab. Die Stockflecken an der Zimmerdecke sind übertüncht. Das Kaffeegeschirr ist von Frau Kornblum geborgt. Die will als Evangelische nicht stören. Jakob muss ihr ein Kuchen und ein Schüsselchen mit Schlagsahne bringen. Im Halbdunkel des Gangs steht der japanische Koffer. Ein Schnappschloss ist aufgeklappt. Er kann nicht widerstehen, lauscht. Freundliches Geplauder. Die markante Redeweise seines Vaters, dann die mehlig belegte Stimme des Gastes, das Stimmengewirr der Familie. Er öffnet das andere Schnappschloss, lässt es geräuschlos in die Handfläche schnellen, hebt den Kofferdeckel. Im gedämpften Licht die Konturen einer goldbestickten Mitra, darunter schimmert etwas aus glänzendem, gefaltetem Stoff. Er erschrickt über seine Dreistigkeit, ja Tollkühnheit. Sie werden es ihm ansehen, wenn er ins Wohnzimmer kommt. Er muss noch warten, bis ihm die Ader am Hals nicht mehr so pocht.

   Der Sonntag ist da. In Sankt Augustin drängelt man sich fast bis zur Kommunionbank. Der Pfarrer hat die beiden Stadtzeitungen alarmiert. Reporter stehen im Mittelgang, haben ihre Leicas mit den großen Blitzreflektoren unter den Trenchcoats verborgen. Noch immer quillt es durch Hauptportal und Seitentüren herein. Jakob entdeckt zwei evangelische Klassenkameraden. Sie schauen weg, als sich ihre Blicke kreuzen. Hiroshima ist ein magisches Wort. Weit über hunderttausend Menschen sollen da durch eine einzige Bombe verbrannt und verdampft sein. Einen, der aus diesem Höllenort kommt, so einen wollen sie sehen. Wie hat der die Bombe überlebt? Warum kommt der ausgerechnet hierher? Einen echten Japaner sieht man nicht alle Tage. Die Tür zur Sakristei öffnet sich. Der Oberministrant greift zum Brokatband, zieht an der Schelle. Auf dem Orgelbock sitzt der junge Prokosch, weiß, was er dem Gast, seinem Land und der Orgel selbst schuldig ist. Die Bässe dröhnen wuchtig und stolz. Gleich darauf die hohen Register. Wie goldene Strahlen durch ein Kirchenfenster. Bischof Ogihara mit der Mitra aus dem Koffer. Pfarrer und Kaplan flankieren den Gast. Die Ministrantenschar in roten Umhängekragen und Röcken. Choreografie des Hinkniens, Aufstehens, Umdrehens. Enttäuschung, als bloß der Pfarrer auf die Kanzel steigt. Der Bischof soll doch fließend Deutsch sprechen.

   Die Orgel braust. So hat Jakob sie noch nie gehört. Er verdrückt sich durch den Seitenausgang. Er will den Ogihara beim Auszug sehen. Ministranten und Priester wenden sich zum Hauptportal. Der Ogihara zieht hinaus ins Freie. Die Menschen bilden ihm eine Gasse. Er segnet nach links und rechts. Alte Frauen fallen auf die Knie. Jakob möchte von ihm gesehen werden. Hat doch mit ihm Streuselkuchen und Schlagsahne gegessen. Ihm am Ausziehtisch direkt gegenüber gesessen. Doch heute muss er ihn mit allen teilen. Gleich dahinter sein Vater, den Kopf geneigt, den Hut gedankenverloren in der Hand. In den Augen steht ihm das Wasser. Grüner Rotz rinnt aus der Nase. Ein Traum ist wahr geworden.

Am Nachmittag Einladung der ganzen Familie. Kaffee und Kuchen im Pfarrhaus. Mit Opa und Tante. Alles macht sich elegant. Andi kriegt die kurze Bleyle-Strickjacke, steckt sich sein unvermeidliches Blechedelweiß ans Revers. Jakob in Trachtenjacke mit Knöpfen aus Hirschhornimitat. Jacketts mit Krawatten vom Vater für die ältesten Brüder. Der Vater hat sich den Bauchweitenanzug aus der Caritasspende enger machen lassen. Ein Kavaliertaschentuch spitzt aus der Brusttasche. Die Mutter hat ihr altes Sonntagskostüm mit einem weißen Schaltuch aufgemöbelt. Tante Helenes Haar seit längerer Zeit einmal wieder gewaschen und in einem lockeren Knoten gefasst. Ihr weißes Krägelchen frisch gestärkt. Der Opa im dunklen Anzug, in dem er mal in seinen Sarg gelegt werden will. Heute setzt er die ältere Brille auf. Weil da der Bügel noch nicht gebrochen ist. Kaffeeduft im Pfarrhaus. Die Haushälterin türmt drei Butterkremtorten auf. Das dünnwandige Kaffeeservice auf der weißen Damasttischdecke. Ihr bestes. Den beiden Jüngsten zischt die Mutter Wehe, ihr tropft ins Ohr. Servietten aus richtigem Stoff. Auf der Vitrine zwei schwere, silbrig schimmernde Leuchter. Ein meterhohes Kreuz in der Zimmerecke.

   Der Mann von der Lokalzeitung hält sich noch im Hintergrund. Akira Ogihara kommt mit Pfarrer und Kaplan aus einem Nebenzimmer herein, geht auf die Eltern zu, ergreift deren Hände, will mit dem Schütteln nicht aufhören, legt dann den Arm abwechselnd auf die Schultern der vier Söhne, macht vor den fünfundachtzig Jahren des Großvaters eine tiefe japanische Verbeugung. Jakob prägt sich die Gestalt des Ogihara ein. Der bodenlange Priestertalar, die rote Schärpe, das Bischofskreuz, dieser weite Umhang aus einem geheimnisvoll rascheln den, schillernden Stoff. So ein Gesicht muss ein Fürst in Japan haben. Oder ein Ritter, grübelt er. Diese seltsamen Augen, die ihm geschlossen und zugleich weit offen erscheinen. Auf eine günstige Gelegenheit lauert er, ihm seine Frage zu stellen. Wie das damals war. Mit der Bombe. Und warum er sie überlebt hatte. Doch in das Geplauder der Erwachsenen, ihre Tortenmassen und Sahneberge passt die Frage nicht hinein. Der Zeitungsmann hat dem Pfarrer etwas zugeflüstert. Die Familie stellt sich hinter Ogihara auf.

   Nach dem Blitzlicht fragt Herrmann, was denn seine letzte Briefzeile in japanischer Schrift auf Deutsch bedeutet. Er schließt die Mandelaugen. Sein Mund wird schmal. Die Lippen bewegen sich stumm. Vielleicht in seiner Muttersprache. In die plötzliche Stille hinein spricht er in klarem Deutsch:

Der Schnee biegt den Bambus, aber er bricht ihn nicht.
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