Das Wirtschaftswunder

Der Aufschwung
Deutschland vor über 50 Jahren im Wirtschaftswunder

Man wunderte sich, dass die Verlierer des Zweiten Weltkrieges, bei denen noch vor wenigen Jahren alles in Trümmer gelegen hatte, sich so schnell erholt hatten. In Wirklichkeit aber hatten die Bomben und die Demontagen der Besatzungsmächte die deutsche Industrie nur zum Teil zerstört. Außerdem gab es Hilfe. US-Außenminister Marshall hatte ein Wiederaufbauprogramm ins Leben gerufen, den Marshall-Plan. Auch die westdeutsche Wirtschaft profitierte davon in Form von Geld und neuen Maschinen.

US-Außenminister George Marshall stellte den europäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg 12,4 Milliarden Dollar Aufbauhilfe zur Verfügung. Davon entfielen 1,3 Milliarden auf West-Deutschland. Das European Recovery Program (ERP) trug maßgeblich zum bundesdeutschen "Wirtschaftswunder“ bei.

Jetzt kommt das Wirtschaftswunder Schon gegen Ende des Krieges hatte der Freiburger Walter Eucken Gedanken für eine neue Wirtschaftspolitik entworfen. Die einzelnen Wirtschaftsunternehmen sollten zwar frei entscheiden können, sich aber grundsätzlich einem Rahmen unterordnen, den der Staat vorgab. Alfred Müller-Armack entwickelte daraus das Konzept der sozialen Marktwirtschaft. Der Markt sollte zwar frei sein, doch sollten Schwächere gestützt werden, um auch eine Chance zu haben.


Der Vater des Wirtschaftswunders Ludwig Erhard

Als Vater des "Wirtschaftswunders“ gilt Ludwig Erhard, der spätere Wirtschaftsminister und Bundeskanzler. Er setzte gegen den Widerstand der SPD die soziale Marktwirtschaft politisch durch. Zunächst aber ging die Rechnung nicht auf. Nach der Währungsreform stiegen die Preise, die Löhne aber blieben niedrig und viele wurden/waren sogar arbeitslos. Zu dieser Zeit waren die meisten Menschen in Deutschland froh, das Nötigste zum Leben zu haben. Unübersehbar war auch das Problem der Vertriebenen und Flüchtlinge. Ihr Strom nach Westdeutschland riss nicht ab.


Werbeanzeigen Anfang 1950

Erhard versuchte, die soziale Marktwirtschaft mit dem preiswerten sogenannten Jedermann-Programm zu retten. Produkte und dringendste Bedarfsgüter, die für große Teile der Bevölkerung unerschwinglich geworden waren, sollten nun zu offiziell festgesetzten Preisen auf den Markt kommen. Professor Dr. Erhard erklärte: "Die durch die Währungsreform ausgelösten Härten, zu denen auch die Preissteigerung gehört, werden besser als durch die Mittel der Zwangswirtschaft durch die Produktion von Jedermann-Waren überwunden werden können. In den 50er Jahren stieg das Wirtschaftswachstum mit der Marktwirtschaft rasch an. Die Lage der Bevölkerung verbesserte sich deutlich. Die Bauindustrie – durch Marshallplangelder angekurbelt – wurde zu einem entscheidenden Motor dieses Aufschwungs.

Das Wirtschaftswunder hatte auch weltpolitische Ursachen. Die amerikanische Wirtschaft war durch den Korea-Krieg voll in Anspruch genommen. Das war die Chance für die deutsche Stahlindustrie. Durch die Nachfrage auf dem Weltmarkt nahm sie einen enormen Aufschwung. Es gab viele billige qualifizierte Arbeitskräfte. Viele Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten kamen nun auf den Arbeitsmarkt. Die Löhne waren niedrig, die Arbeitszeiten hoch. Sechs Tage die Woche, zehn Stunden am Tag waren der Durchschnitt. So kam es, dass deutsche Waren nicht teuer waren und leicht exportiert werden konnten. "Made in Germany“ wurde wieder zum Markenzeichen. Auch die Autoindustrie feierte ihre Erfolge. Die amerikanische Methode des Fließbandes setzte sich durch. Es galt die 48-Stunden Woche und es wurden Überstunden gemacht. Die Menschen arbeiteten, weil sie sich etwas leisten wollten. Allein im Volkswagenwerk in Wolfsburg wurden jährlich mehr als eine Million PKW hergestellt. Trotzdem gab es Wartezeiten, wenn man einen Volkswagen kaufen wollte.

Vollbeschäftigung und Gastarbeiter
Die Gewerkschaften hielten sich zurück mit Forderungen nach Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzung. Sie kämpften zuerst für den Ausbau des sozialen Netzes und für die Mitbestimmung in den Betrieben. Am wichtigsten war zunächst jedoch, dass für alle Arbeit da war. Die Vollbeschäftigung war 1955 erreicht. Es gab sogar so viel Arbeit, dass die Arbeitskräfte in Deutschland nicht ausreichten, und die Bundesregierung in Absprache mit anderen Staaten Arbeiter, vor allem aus Italien, Spanien, Jugoslawien und der Türkei, anwarb, als Gäste in der Bundesrepublik zu arbeiten. Der Millionste Gastarbeiter kam 1964 aus Portugal; er wurde groß gefeiert und bekam ein Moped geschenkt.

Bei einer so florierenden Wirtschaft wurden einige sehr reich, manche Unternehmen wuchsen zu Weltunternehmen heran. Das Vermögen aber war ungleich verteilt: (75 % des privaten Vermögens gehörte 17 % der Bevölkerung). Ein Blick hinter die Kulissen der Wirtschaftswundergesellschaft zeigt deren Stiefkinder: kinderreiche Familien, Kriegshinterbliebene, Rentner, Obdachlose. Noch 1953 bezog jeder dritte Einwohner der Bundesrepublik Unterstützung einer Sozial- und Fürsorgeeinrichtung. Dabei hatte der Konsumrausch begonnen – und da wollten alle dabei sein. Viele konnten es, denn das Volkseinkommen hatte sich zwischen 1950 und 1965 verfünffacht.

Am Anfang des Wirtschaftswunders herrschte noch Wohnungsnot: kinderreiche Familien lebten oft beengt in einem Zimmer – schlafen, essen, kochen, alles in einem Raum. Auch das Wohnungsproblem packte man an. Jahr für Jahr wurden mehr als eine halbe Million Wohnungen fertig gestellt, insgesamt sechs Millionen. Bei der Ausstattung wurde auf "Komfort“ geachtet. Mit eigenen Bädern und eingebauten Küchen erfüllten sich viele langgehegte Wunschträume. Auch die elektronischen Medien begannen ihren Siegeszug: Das große Radio und der Fernsehempfänger setzten sich durch.

"Wir sind wieder wer“
Ende der 50er Jahre rollte eine weitere Welle heran. Zumindest die Besserverdienenden waren auf ihren Wohlstandsbauch nicht mehr stolz. Mühsam wurde abtrainiert, was man sich in langen Jahren "angefressen“ hatte.


Fernsehtruhe aus den 50igern

Nach der "Freßwelle“ kam die Einrichtungswelle. "Schöner Leben“ hieß die Devise. Zum neuen Lebensstil gehörte auch das Auto. Aus den Deutschen wurde ein Volk der Autofahrer. 1950 war jeder hundertste stolzer Besitzer eines Autos, zehn Jahre später schon jeder zwölfte. Die Befriedigung der automobilen Sehnsüchte galt als Beweis, wie gut es einem ging. Es kam ein neues Selbstbewußtsein auf. "Wir sind wieder wer“, so hieß es, und das galt auch im Fußball: 1954 wurde Deutschland Weltmeister.

Die nun folgenden Foto-Impressionen aus den 50iger Jahren in Coburg stellte mir freundlicherweise Herr Heinz Niermann, Coburg zur Verfügung.

Einen kleinen Einblick in das Alltagsleben der 50iger Jahre werfen wir mit einem Blick in die Schaufenster der Coburger-Firmen: Hess, Kiederle, Stahl und Steinbauer:

 

Die weiteren Fotos geben Eindrücke aus dieser Zeit in Coburg wieder:

Auf die Deutsche Mark war man stolz. Auch wer nicht viel besaß, glaubte fest an das Privateigentum. Die Währung (harte Deutsche Mark), die Arbeitsplätze, das Grundstück, das Eigentum und der Volkswagen, das waren die neuen Werte. Soziales Protestpotential gab es kaum. Das Rezept der sozialen Marktwirtschaft hatte gewirkt.

 
Urlaubsziel Italien 
Alles drehte sich um die Wirtschaft. Die Wirtschaft bestimmte die Mentalität der Menschen. In der Wirtschaftswunderwelt wurden zwischenmenschliche Beziehungen vielfach dem Lebenskomfort geopfert. Sehnsüchtig entdeckten die Bundesbürger neue Welten. Sie entdeckten den Urlaub, und Urlaub hieß Italien.

Die Reisewelle rollte an. Zu den beliebtesten Urlaubszielen im Ausland entwickelte sich in der zweiten Hälfte der 50er Jahre Norditalien und für Flugtouristen Mallorca. Das Auto beförderte ins Traumland der Freiheit. 1958 konnten sich schon über 3 Millionen Bundesbürger Urlaub im Ausland leisten.


Traumwelt Film und Rock` n Roll
Dem Fernweh entsprach das Heimweh. Die Heimatfilme waren eine Flucht in die Idylle. Sie produzierten eine kitschige Traumwelt zur Wirtschaftswunderlandschaft, die offenbar eine emotionale Leere hinterlassen hatte.

In der jungen Generation brach Protest gegen die Schnulzenwelt, die alle Probleme unter den Teppich kehrte, aus. Die Jugendlichen wandten sich anderen – amerikanischen – Idolen zu: James Dean wurde zum Vorbild vieler Jugendlicher, "Halbstarke“ wurden vielerorts zum Problem, der Rock` n Roll wurde von der Jugend favorisiert. Das Motorrad, die Lederjacke und die Haartolle wurden zum Kultobjekt. Die musikalischen Idole hießen Bill Haley und Elvis Presley, später – gegen Ende des Wirtschaftswunders – Beatles und Rolling Stones.  


Ende des Wirtschaftswunders?
Das Wirtschaftswunder hatte auch eine Kehrseite. In der Umwelt wurde sichtbar, dass die Vergötterung grenzenlosen Wachstums die Umwelt ruinierte. Triste Vorstädte und Trabantensiedlungen waren entstanden, historische Gebäude wurden abgerissen, die Stadtkerne verödeten.

 

Mitte der 60er Jahre begannen die wirtschaftlichen Krisen. Den Anfang machte der Kohlebergbau. Wachstumsstörungen und Arbeitslosenzahlen nahmen zu. Mit Ludwig Erhard hatte 1948 das Wirtschaftswunder begonnen. Nun geriet das Modell der modernen Wirtschaftsordnung aus dem Höhenflug in die Phase alltäglicher Bewährung. Mit Ludwig Erhard als Bundeskanzler geriet das Wirtschaftswunder in die Krise und an sein Ende. Als Erhard zurücktrat, ging eine Ära zu Ende.

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