Eine Sturmflut

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Eine Sturmflut
Eine Erzählung über die Sturmflut
in der Nacht zum 4. Februar 1825

An einem schönen Septembertag des Jahre 1846 war ich in den Marschen der Friesen, die von Husum sich nördlich hinziehen bis Tondern. Wir saßen nachmittags im Sonnenschein vor dem Haus des Landeshauptmanns, eines wohlhabenden Hofbesitzers. In unserer Gesellschaft war auch der Schullehrer, ein alter Mann mit dünnem, weißen Haar und langem, faltigem Gesicht. Lange saß er unbeweglich, ohne an unseren Gesprächen teilzunehmen; erst als die Rede auf die Halligen kam, die kleinen Eilande, mitten im Meer an der Küste gelegen, und auf die furchtbaren Sturmfluten dort, wurde er gesprächig.

"Ich habe eine solche entsetzliche Nacht erlebt und kann sie nie vergessen, " sagte der Greis. "Es war die schreckliche Nacht zum 4. Februar 1825." - Seit einigen Monaten war ich damals auf Südö im Haus eines Freundes und hätte die Halligen gern verlassen; aber anhaltend tobten die Nordweststürme, überdeckten die Inseln alltäglich mit schäumenden Wogen und führten sie an der Warft empor, zuweilen bis an die Hausschwellen und Türen, wo sie donnernd anpochten. Kein Boot konnte See halten; Ebbe und Flut gingen und kamen außer Ordnung und Regel; doch was den Fremden ängstigt, macht meist den Halligmännern wenig Sorge.

Abends saßen wir guten Mutes um den Tisch, auf dem der Teekessel dampfte, rauchten und tranken, während die Spinnräder der Frauen schnurrten, erzählten Geschichten von Stürmen und Sturmfluten und lachten, wenn wir hörten, wie zuweilen fremde Schiffe bei Nacht und hohem Meer über die Halligen hingefahren, wo die Mannschaft an Zauberei glaubte, wenn sie plötzlich dicht neben sich eine hell erleuchtete Stube schaute, die aus dem Grund der See herausgehoben und auf den Wellen zu schwimmen schien.

Dann und wann wurde das Geplauder unterbrochen, wenn draußen das Brausen und Geheul stärker war oder eine mächtige Woge wild über die Warft schlug und an der Mauer des Hauses mit schmetterndem Schlag zerstäubte. Dann sah wohl der eine den anderen an, und der Faden fiel aus der Hand der Mädchen; aber im nächsten Augenblick war der Schreck vorüber. Das Haus war neu und stark, seine Pfosten waren tief gesenkt, die Warft breit und fest.

Am Abend des dritten Februar saßen wir nun auch so beisammen und waren froher gestimmt als je. Denn obwohl es draußen stark wehte und dann und wann in fruchtbaren Stößen stürmte, war der Himmel doch hell und klar. Die Sterne schienen mit silbernem Gefunkel herunter, und strahlend goß der volle Mond sein Licht über das unermeßliche Meer aus.

Wir sahen freilich nichts davon; denn die Läden waren dicht vor die Fenster gelegt, aber wir wussten es und hatten die feste Hoffnung eines Wetterwechsels, der unsere Gefahren beenden musste. Plötzlich kam ein Weinen aus der Kammer, wo die Kinder schliefen. Ein kleines Mädchen von sieben Jahren lief schreiend aus dem Schlaf zu ihrer Mutter und faßte mit beiden Händen das Knie der Frau. "Mutter, liebe Mutter!" rief es jammernd, "wir müssen alle sterben in dieser Nacht; es ist vorbei mit uns, es ist alles vorbei!"

Die Mutter gab dem Kind einen Schlag auf die Finger, halb lachend, halb erzürnt: "Geh schlafen und träume nicht, du närrisches Kind! Es hat keine Not. Draußen scheint der Mond hell, und morgen springst du mit den Schafen im Sonnenschein." "O nein, nein!" schrie das Kind sich festklammernd. "Wie weht es draußen so stark! Es kommt naß in mein Bett." "Bist ein Narr!" sagte der Vater rauh, indem er den Blick nach der alten holländischen Gehäuseuhr richtete. "Es hat noch nicht zehn geschlagen; hohe Flutzeit ist um zwei: also geh!"

Hier hielt er inne; denn plötzlich war es, als schüttle sich das Haus. Die Tassen und Teller in den bunten Schränken klapperten hin und her und klangen gegen die Gläser, und das Kupfer bewegte sich an der Wand. "Was ist das?" rief der Mann, und alle sprangen von den Stühlen und eilten ihm nach zur Tür. Er riß sie auf und stand einen Augenblick wie gelähmt. Der Sturm fuhr wild durch die blitzende Nacht, die vor uns lag in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit. Der Himmel hing darüber wie eine unendliche Sternendecke, und vor uns wälzte sich das Meer in dunklen Tälern und leuchtenden Bergen, deren Gipfel das blendende Licht des Mondes feenhaft überstrahlte.

"Gott sei uns gnädig in dieser Nacht!" murmelte Jens, indem er die Hände zusammenschlug und auf die weißen Wellenkämme hinaus sah, die hoch über die Warft heraufschlugen, uns mit Schaum und Wasserstaub bedeckend. Dann aber fasste er mit der Entschlossenheit eines Mannes, der in Gefahren alt geworden ist, Frau und Kind mit seinen nervigen Armen, drängte sie und uns alle ins Haus zurück, schlug die Eichentüren zu, schob die Riegel davor und den Querbaum und schrie mit mächtiger Stimme: "Bringt die Schafe auf den Boden, rettet die Lade und den Schrank, die Betten und die Kinder! In einer viertel Stunde werden wir das Wasser im Haus haben, und alles wird zu spät sein."

Nun gab es ein Laufen und Schreien. Es waren drei Männer da, zwei Frauen und drei Kinder, und jeder suchte die steile Bodenleiter hinauf zu schleppen, was er fassen konnte. Aber die Flut war schneller, als wir meinten. Nach wenigen Minuten schon sahen wir das Wasser in kleinen, leisen Bächen geräuschlos durch die Fugen und Ritzen der Tür rieseln; so quoll es auch aus dem Gestein und aus den Dielen hervor und breitete sich immer rascher und eiliger aus.

Plötzlich schoß eine hohe Welle gegen die Läden vor den Fenstern, und drinnen klangen die Scheiben. Die kleinen Gefäße, Kisten und Kasten fingen an zu schwimmen und zu treiben, und nun schmetterten die Wogen gegen die ganze Breitseite des Gebäudes, jede wilder und mächtiger als ihre Vorgänger. Tür und Fenster ächzten; das Haus zitterte in seinen Grundfesten. Die Frauen und Kinder flohen zum Boden hinauf; wir Männer aber saßen auf dem Tisch, zwischen uns die Lampe haltend, die mit ihrem trüben Flämmchen unsere angstvollen Gesichter und das dunkle, immer höher wachsende Wasser beleuchtete.

Gesprochen wurde nichts, und was sollten wir auch sprechen? Alle unsere Aufmerksamkeit war auf das Brausen der Wellen und ihre furchtbaren Schläge gerichtet, die mit stets erneuter und größerer Gewalt das Haus erschütterten. Zuweilen war das Toben der berstenden Wasser und das Geheul des Sturmes, der sie begleitete, so arg, als würden draußen Kanonen gelöst, deren Donner uns umtönte; dabei wuchs die Flut von Minute zu Minute um unsere Füße. Bald war von dem Bett in der Wand und von dem Herdstein nichts mehr zu sehen; finster sich kräuselnd, kroch es zu uns an der Tischplatte in die Höhe; nur wenig mehr als eine Hand breit fehlte daran, bis es uns erreichte, als plötzlich ein ungeheurer Schlag an die Mauer geschah und mit Gedankenschnelligkeit eines der Fenster samt dem Laden und die Einfassung mit dem Steinwerk aus den Fugen sprang und niederwärts über uns hinstürzte.

In demselben Augenblick fuhr ein Balken, von einer der mächtigsten Wellen getragen, durch die Öffnung in das Haus, durchbrach die Hinterwand, die in die Kammer führte, und stürzte mit dem Schwall des Wassers, der ihn hinein getragen, krachend nieder. Die Woge, die sich über uns ergoß, warf zugleich unseren Tisch um und spülte uns in einem Wirbel weiter. Ich stieß einen Schrei aus, denn der Stoß hatte mich hart an eines der schwimmenden Gefäße geschleudert; aber Jens faßte mich mit seiner starken Hand und riß mich auf zur Tür fort, die er nur mühsam noch zu öffnen vermochte. "Und es war ein Glück für uns, " fuhr der alte Mann fort; "denn hoch stand das Wasser. Die Leitertreppe zum Boden war weggeschwemmt unsere Lampe längst erloschen, in dichter Finsternis wir mitten in der Flut, und rings um uns der Tod.

Mit Mühe fanden wir die Leiter, und mit großer Not gelang es uns, sie aufzurichten. "Hinauf, so schnell ihr könnt!" rief Jens; "die Tür hält nicht länger aus." Und mit starkem Arm stieß er mich die Stufen hinauf, dann den zweiten, endlich kann er selbst hinterher. Und kaum war es geschehen, so kam, was er vorhergesagt; ein Krachen geschah unten, die Haustür flog in Stücke, die Leiter schlug über und verschwand. Als sie fiel, stürzte die ganze Vorderwand des Hauses zusammen; nur die Ständer hielten, blank und bloß wie sie waren, und ließen den wütenden Wellen nun freies Spiel, die in weniger Zeit, als ich rede, alle inneren Wände zerschlugen, dass von allem, was gewesen, nichts mehr blieb als das Dach, das auf den Pfosten ruhte.

Ein Schrei der Todesangst begleitete den Fall der Mauern und klang durch das Toben des Wassers und des Sturmes. Finsternis überall; das Strohdach, dicht und fest verkoppelt, ließ keinen Schimmer durch. Naß, erschöpft und verzweifelnd warf ich mich nieder und hörte neben mir das Geschrei der Frauen und Kinder, die den Vater umklammert hielten, der vergebens ihnen Trost zuzusprechen suchte.

"Gott wird es gnädig von uns wenden, " sagte er, "laß das Klagen sein, Else! Weint nicht Frauen! Gottes Hand kann es allein, kein Mensch mit aller seiner List und Stärke. Und sind wir nicht glücklicher als andere? Wir sitzen hier auf dem Dach, unsere Warft ist fest, manche andere muss schon gebrochen sein, denn die Balken treiben durch die wütende See."

"Ist unser Unglückstag, Peter, " rief er mir zu, wie er seit einem Jahrhundert nicht über uns gekommen ist; hab` es nie erlebt und nie sagen hören von einem Lebendigen. Müssen alle Deiche brechen bis an die Eider und weiter hinauf bis an die Elbe. Wer den Morgen erlebt, wird den großen Jammer sehen!"

"Werden den Morgen nicht erleben, Jens!" sage ich; "hat uns ja Gott durch den Mund deines Kindes den Tod angekündigt, den wir alle leiden sollen!" "Ist nicht wahr, Peter!" rief der dagegen. "Der allmächtige Gott hat durch den unschuldigen Mund uns gerettet, hat uns gewarnt, ehe es zu spät war, und wird uns weiter behüten!"

In diesem Augenblick faßte ein wütender Stoß das Dach und bog es zusammen, wie eine Weidengerte gebogen wird. Die Sparren knarrten und brachen über uns, die Rippen des Strohs rissen und trennten sich, Wellenschaum und nasser Staub stürzten durch den Spalt auf uns nieder, durch den ein Mondstrahl matt herein irrte und unserem Auge zeigte, was ich nie vergessen werde.

Vor mir am Boden, die Arme fest ineinander geschlungen, saßen die Frauen mit aufgelöstem Haar, ihre starren, wilden Blicke zum Himmel gerichtet. Die Kinder hielten sie umschlungen und bargen ihre Köpfe in stummer Angst an die Mutterbrust. Jens stand daneben, sein magerer fester Körper und sein blutloses Gesicht waren wie Stein; hinter ihm in dumpfer Gefühllosigkeit stand der andere Mann, den nahen Tod wie ein Opfertier erwartend. Und während dieser schrecklichen Minuten flog das Dach zerrissen in Luft und See und ließ uns alle Schrecken unseres nahen Unterganges erkennen. Der Sturm schien sich mit dem fürchterlichen Stoße, mit dem das Dach brach, gemildert zu haben; er tobte nicht mehr so arg, und der Himmel war so klar, durchsichtig und glänzend, wie ich ihn kaum je gesehen. Der Mond strahlte dazu in seiner ganzen Pracht auf die unermeßlichen Wasserberge nieder, die brausend sich bäumten und sich verschlangen. Kein Ton des Lebens, kein Hoffnungszeichen, kein Schrei, keine andere Bewegung als die der empörten Wasser unterbrach die fürchterliche Eintönigkeit.

Es war nichts zu entdecken von nahem oder fernem Land; alle Halligen, alle Küsten der Außeninseln schienen tief unter der Flut zu liegen, alles Lebendige erstickt zu sein; es war, als wären wir von allen sterblichen Wesen auf Erden allein noch übrig geblieben, um die Angst des Todes langsamer und schmerzhafter zu empfinden. Denn eine schreckliche Gewißheit löschte jeden Hoffnungsfunken aus. Noch war es mehr als eine Stunde Zeit bis zur höchsten Flut, und schon erreichte diese die halbe Höhe der Balken und schleuderte ihre Wellenspitzen zu uns auf. Zwischen den Spalten der Bretter zu unsern Füßen konnten wir die schäumenden Wogen verfolgen, wie sie durch die eingestürzten Wände des Hauses rollten, von den Resten der Mauern abprallten und ein schreckliches Spiel mit Kisten und Kasten, Schränken und Geräten trieben, bis die letzte Schranke zusammenbrach und im wilden Wirbel um alles auf den breiten Tummelplatz ihrer Wut gerissen wurde.

"Denken sie sich jetzt", sagte der alte Mann, "wenn sie vermögen, das Bild unserer Not! Denken sie sich die krampfhaft gefalteten Hände, die Lippen, auf denen das Gebet stirbt, die angstverzerrten Gesichter, deren Entsetzen kein Wort beschreiben kann. Jede Welle, welche an die Pfeiler prallte, die allein unsere Erhaltung sicherten, regte die Angst höher auf. Wir fühlten die durchdringende Kälte der Februarnacht nicht, fühlten nicht, dass die nassen Kleider an unserer Haut festklebten, fühlten den Sturm nicht, der unser Haar zerriß: alle Erwartungen und Empfindungen drängten sich auf das Bangen vor der gräßlichen Minute zusammen, die uns aus dem Buch des Lebens streichen sollte." Und diese Minute nahte; wir sahen sie kommen, ohne irgendetwas tun zu können, sie aufzuhalten. Die glänzenden Berge von flüssigem Metall, die uns umwogten, wurden höher und höher; die zitternden Balken überzeugten uns, dass das Wasser immer tiefer und mächtiger im Grund nage und bohre. Zuweilen schienen die Stützen zu schwanken, und ihr Krachen zeigte an, wie mühsam sie dem wütenden Element widerstanden. Der harte Lehm der Warft löste sich unter der Arbeit des Wassers auf; er wurde losgerissen und fortgespült und die hohen Sturzseen, die mit fürchterlicher Kraft an dem Holzbau rüttelten, zogen diesen hin und her, bis kein Widerstand mehr zu leisten war.

Unter allen diesen Schrecken hatte Jens allein seinen ungebeugten Mut bewahrt. Er war ein Mann, der unter den wetterharten Halligbewohnern einen hohen Ruf besaß. Lange Zeit war er, wie die meisten der jungen Männer der Halligen und Außeninseln, auf den Meeren, umher geschifft, hatte als Steuermann einen Indienfahrer geführt und sich dann mit dem ersparten Geld in seine geliebte Heimat zurückgezogen. Hinaus in die Welt wollen alle und ihr Glück versuchen; aber wen das Meer nicht verschlingt, der kommt wieder heim mit tiefer Sehnsucht im Herzen, wie die Wandervögel wiederkehren.

Mögen sie noch so weit ziehen zu schönen, fernen Länder, sie suchen das Nest im hohen Norden immer wieder auf, wo es in Sturm und Nebel an öden Klippen hängt. Jens hatte eine Frau genommen und das alte Haus seiner Väter neu und stark aufgebaut. Mit breitem Steingiebel über der Eichentür stand es schöner da als irgendeines, und Jens wohnte als glücklicher Mann darin. Drei kräftige Kinder schrien dem Vater entgegen, wenn er aus dem Schlick (Schlamm) mit seinem Netz voll Robben und Krabben heimkam oder sein weißes Segel der Hallig wieder nahte, wenn er damit von Husum, wohin er sein Schaffleisch, seine Felle und seine Möweneier verkauft hatte. Keiner war weit und breit zu finden, der ein Boot so zu führen verstand; keiner kannte das Meer besser, keiner Wind und Wetter so wie er.

Es war ein kühner Mann, ein echter Friese, vor keiner Gefahr erbebend, ruhig überlegend, voll stolzen Selbstvertrauens und von Kindheit an gewöhnt, am meisten auf sich selber zu hoffen. Als das Dach in Stücke flog, stand er eine Zeitlang starr hinaus blickend auf das Meer, seinem Kummer hingegeben. Was er mühevoll gebaut und erworben hatte, war verloren und verschlungen; aber hier auf diesen nassen Dielen lag doch das Teuerste gerettet, was er besaß, seine Frau, seine Kinder! Der alte Mut kehrte ihm bald wieder zurück. Er trug die Kinder auf die sicherste Stelle, schützte sie mit Betten und Gerät, band seine Schafe an den Balken und Sparren fest, dass Wind und Wellen sie nicht beschädigen mochten, sorgte für die Rest des Eigentums, so gut er konnte, und sprach denen Trost zu, die auf ihn als einen Helfer in ihrer Not mit dem letzten, kranken Strahl ihrer Hoffnung blickten.

Seine Ruhe, sein Vertrauen hielt den Glauben wach, der in jedes Menschen Brust wohnt, den Glauben an Rettung, den der Sterbende noch bewahrt; und wenn man auf Jens blickte, wie er fest in das Wellengebraus hinaus sah, wie er mit seinen harten Händen den Schaum der Wogen von seinem flatternden Haar wischte und mit sicheren Schritten von einem zum anderen ging, ihm Mut zuzusprechen, hätte man glauben sollen, er wäre von aller Sorge und Furcht frei. Aber in seinem Herzen sah ich bald, wie wenig er selbst an Erhaltung seines Lebens glaubte.

"Hab nie so etwas Fürchterliches geschaut, Peter!" rief er mir zu; "glaube es gern, und mir geht es ebenso. Bewahre Gott jeder Mutter Kind! Werdet erzählen können nach langen Jahren. Glaubt ihr denn wirklich, dass wir jemals einem Menschen wieder sagen werden, was wir hier erlebten?" Er sah mich mit einem wilden, schnellen Blick an. "Sind beide alt genug zu Sterben, Peter" sagte er dann, "und habe das Meer wohl schon grimmiger gesehen als in dieser Nacht, ohne zu fürchten; aber da, da - er deutete auf die Frauen und Kinder - "das macht das Ende zur Qual, die wie Höllenfeuer brennt. Stehe hier wie ein Lamm und kann mich nicht wehren gegen den Tod: muss ihn kommen sehen mit offenen Augen! Strecken ihre Arme zum Vater aus, fordern Hilfe und Erbarmen von ihm! Das schneidet mit tausend Messern, Peter! ist das Schrecklichste, was ein Mann erfahren kann."

In seinem blassen, ernsthaften Gesicht war ein grausamer Schmerz zu lesen, der plötzlich die undurchdringliche Ruhe überwältigte. "Sind wir wirklich verloren, Jens?" rief ich, und der Mut, der ihn verließ, ergriff mich. "Das Haus steht noch fest, in kurzer Zeit muss die Flut ablaufen, das Ärgste ist schon jetzt vorüber." " "Nein!" sagte er mit trotziger Bestimmtheit, das Ärgste kommt noch: Was wißt ihr davon, Peter! Das Haus wankt, die Warft ist zur Hälfte fort geschlagen, die Stützen liegen bloß, die Wellen heben die Bretter zu unseren Füßen, und nun seht dort hinaus. Seht ihr den schwarzen Berg, der sich übers Meer ausdehnt wie ein Ungeheuer, das in die Wolken hinauf will? Das ist die hohe Flut, Peter! Sie rollt gegen uns auf, und kein Leben kann ihr entkommen."

Als ich der Richtung seiner Hand folgte, stockte mir mein Blut vor Entsetzen. In der Ferne, wo Mondschein und Meer im Dämmerlicht verschmolzen, stieg ein dunkles, bewegliches Gebirge empor, das mit fürchterlicher Geschwindigkeit auf uns zukam. Es war die höchste Flutwelle, die der Sturm vor sich her trieb und zusammengeballt hatte, gleich einem ungeheuren Keil, den er mit unwiderstehlicher Gewalt gegen alle Küsten und Deiche schleuderte. Und ihm voraus höhlte sich die Tiefe vor seiner Macht und bildete ein schwarzes Tal, aus dem die Wogen sich aufbäumten, kämpfend gegeneinander stürzten und zerstäubten, um wieder zusammenzufließen und mit erhöhter Kraft auf uns zu fallen. Schmetternd schlugen sie gegen die Westseite des Hauses, die Sturzseen flogen über uns hin, die Bretter des Bodens wurden unter unseren Füßen aufgerissen, das Wasser quoll darunter hervor, der ganze Bau wankte und krachte, und mit dem Gefühl der Vernichtung schloß ich die Augen und umklammerte den Balken, an den ich mich gelehnt hatte.

Aber es war nicht so; noch hielten die Bänder, nur an den Seiten waren die Pfähle fortgerissen und westlich hatte sich das Dach schief herab gesenkt. Aus meiner Betäubung wurde ich durch die Stimme von Jens geweckt, die das Gekreisch der Weiber übertönte, und als ich die Augen aufschlug, sah ich den kühnen Mann rasch über das sinkende Dach laufen. Sein Dienstmann folgte ihm, und beide waren geschäftig, die Schafe von den Sparren zu lösen, an die sie gebunden waren.

In diesem Augenblick schäumte der ungeheure Flutberg an, und von Todesangst getrieben floh ich gegen die feststehende Ostseite. Da lag die Frau auf ihren Knien, ihre beiden jüngsten Kinder fest an ihr Herz gedrückt, die Augen verzweifelt auf ihren Mann gerichtet. "Zurück, Jens, zurück!" schrie sie ihm zu und getrieben von ihrer Angst sprang sie auf und lief ihm entgegen. Ich wollte sie hindern, und vermochte es nicht, ich wollte ihr zu schreien und wurde durch einen Schlag von ihrer Seite gerissen, wollte mich halten und konnte nichts ergreifen. Die Woge bäumte sich schwarz über uns und stürzte vernichtend nieder. Ein Fallen und Brausen mischte sich mit wildem Geschrei, ich verlor das Bewußtsein.

Hier schwieg der alte Mann und setzte gemächlich seine erloschene Pfeife in Brand - "Jedenfalls, " sagte einer meiner Begleiter lächelnd, "mildert sich unser Entsetzen, da wir gewiß sind, ihre Sinne schwanden nicht für immer."
 
"Nicht für immer, " erwiderte er, "aber welch ein Erwachen war es! Zehn Schritte vom Haus am Rande der Warft stand, wie es Sitte auf den Halligen, der Heuvorrat in einem hohen Haufen fest zusammengepackt, und dies geschah mit solcher Gewalt, dass nur mit Mühe und mit Hilfe großer eiserner Gabeln das Heu, wenn es gebraucht werden soll, herausgestochen werden kann. Die Mitte der Heudieme, wie sie genannt wird, bildet ein starker Pfahl, der sie hält; und hier war es, wo ich mich wiederfand. Das Haus war zusammengestürzt, die letzte Stütze gebrochen; aber die Dieme stand, und die ungeheure Woge, die mich aufgehoben und in das wilde Meer geschleudert, hatte mich hierher geworfen, wo ich in krampfhafter Starrheit mich an den Pfahl klammerte.

In solcher Not scheint der schwache Lebensfunken sich vor seinem Erlöschen zu entsetzen und mit verzweifelnder Stärke eine letzte Anstrengung zu seiner Erhaltung zu machen. Ich hing auf dem abschüssigen, mit Schlamm und Schaum bedeckten Heu, ohne loszulassen; und doch hätte eine einzige Biegung meiner Finger hingereicht, mich in die Wellen hinunter gleiten zu lassen, die mit weißen Zähnen meine Füße packten.

Das Gefühl des Lebens kehrte zurück und mit diesem Augenblick das volle Bewußtsein meiner Lage und meiner Gefahr. Der Mond war unter finsteren Wolken verschwunden, tote Nacht ringsumher. Ich sah nichts von dem Haus; ich wußte, daß es mit allen, die mit mir darin gelebt und gelitten, zerschmettert und versunken lag, dass triumphierende Wogen sich nur noch Leichen und Trümmer zu schleuderten, und ich hörte nichts als das wilde Brausen der Fluten, die unter mir sich überstürzten, deren bleiches Leuchten mich erkennen ließ, wo ich war.

Eine Minute faßte mich die Angst, ich könnte mich nicht länger festhalten, meine Finger könnten die Last nicht tragen; dann kam die neue Lebenshoffnung mit wunderbarer Kraft, und langsam unter ungeheurer Anstrengung hob ich mich auf und schlang den Arm um den rettenden Pfahl. Es war mir dabei, als hinge eine schwere Last an meinem Leib und wollte mich niederziehen. Plötzlich fühlte ich einen Körper, den Arm eines Wesens, das mich umschlungen hielt und leblos an meiner Seite lag. Es war das Kind, das uns zuerst gewarnt, Elsbeth, Jens erstgeborene Tochter, und mitten in meiner Not drang der erste Schimmer einer Freude wieder in mein Herz, als ich noch Lebenswärme fühlte. Mühsam löste ich ein Händchen, zog es empor bis zur Mitte der Dieme, riß Schlamm und Heu fort und bettete seinen kleinen Leib, so gut ich konnte.

Sechs Stunden saßen wir dann beide allein in Furcht und Finsternis, bis der Morgen anbrach, fuhr er fort, sechs, lange, schreckliche Stunden, deren Qualen nicht zu schildern sind. Mit dem letzten Wogenschwall der hohen Flut, unter dem Jens Haus zusammensank, war der Sturm gebrochen, die Wut der vereinigten Elemente erschöpft. Als der Tag kam, war das Wasser in sein Reich zurückgekehrt; die Warft lag zerwühlt und zerspült vor uns. Ein paar Balken steckten schief in dem Hügel und die Hallig, von Schlamm bedeckt, von eingefressenen Buchten und Rinnen zerschnitten, trat grau aus dem Meer hervor.

Das Kind lag unter meinem nassen Rock fest eingeschlafen, mich schüttelte der Frost im Fieber. Doch vergebens warf ich meine Blicke umher, kein Boot, kein lebendiges Wesen zeigt sich; ich wußte nicht, ob es Menschen gab, die diese Nacht überlebt hatten.

Endlich konnte ich es nicht länger ertragen, ich glitt von der Dieme nieder und watete durch den Schlamm und Schlick an der Warft hinauf. In einer Bucht, die das Meer aushöhlt, spielten die Wellen mit den bunten Fetzen eines Kleides, und als ich näher trat, allgütiger Gott! Da lagen sie, wie ich sie zuletzt gesehen, Jens, die Frau, die beiden Kinder, fest umschlungen, doch blaß, kalt und tot; um sie her die Trümmer ihres Glücks, Gebälk und Steine des Hauses, in dessen Frieden sie gewohnt, samt den Leibern der kleinen Herde, die sie ernährt hatte.

Es war ein banger, trauriger, ein tränenschwerer Tag, voller Weh und herzzerreißender Klagen. Hundert Menschen waren auf den Halligen umgekommen, viele auf den Inseln und in Ditmarschen, noch mehrere hatten nur das nackte Leben davongetragen. Die Deiche brachen, die Marschen liefen voll. Ich aber stand erst nach sechs Wochen von meinem Krankenlager auf, so lange hielt das Fieber mich nieder.

"Und das Kind?" fragte ich, "was ist aus dem Kind geworden?" "Das ist meine herzallerliebste Tochter bis auf diese Stunde, " sagte der alte Mann stolz und erfreut." Ich habe sie groß gezogen. Dann hat sie einen wackeren Mann genommen, mit dem und drei schönen Buben lebt sie froh in dem neuen Haus auf der Warft. Doch wenn ich komme, geschieht es nie, ohne dass wir uns der wilden Nacht erinnern und um die klagen, die verloren gegangen sind." "Und fürchten sie sich nicht, dass eine solche Nacht wiederkehrt?" Der alte Mann schüttelte lächelnd den Kopf. "Sie kennen die Leute von den Halligen nicht, " sagte er. " Da weiß jeder, dass es kommen kann; aber alles Leben ist in Gottes Hand, und lieber das Leben verlieren als die Hallig, wo es so schön ist."

Alle Fotos: 2012 © Ulrich Göpfert

Quellenhinweis: Theodor Mügge