Schloss Ketschendorf

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Schloss Ketschendorf
Das „neue Schloss“ wurde von der zu ihrer Zeit weltberühmten Bauherrin, auch die „Callas“ des 19. Jahrhunderts genannt, Freifrau von Stolzenau errichtet

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  Schloss Ketschendorf
2011 © Ulrich Göpfert

„Keczendorff“ war vor über 900 Jahren ein Dörfchen am Westhang des Buchbergs, etwa an den heutigen Schlosspark grenzend, denn das Itztal mit seinen sumpfigen Ufern und der alljährlichen Überschwemmungsgefahr war damals zum Siedeln ungeeignet. Die wenigen und armen Einwohner hatten – zumal der Ort außerhalb der Stadtmauern Coburgs lag und auch nie den Schutz einer Burg genoß – sehr zu leiden unter den Einfällen der fanatischen Hussiten-Haufen (1430) und dann unter den Schrecken des Bauernkrieges (1525). Pest-Epidemien forderten 1567 und 1626 ihre Opfer. Hatten die Ketschendorfer schon 1632 während der Belagerung der Veste Coburg durch Wallenstein, der im Dorfe sein persönliches Quartier bezogen hatte, schwere Lasten zu tragen, so machte zwei Jahre später der kaiserliche Oberst Schlitz mit seinen Kroaten den ganzen Ort zu einer Ruinenstätte.

Mehr als 150 Jahre dauerte es, bis sich Ketschendorf von dieser Katastrophe einigermaßen erholt hatte. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts begann eine wirtschaftliche Blüte einzusetzen, die eng mit dem Sommerschlösschen zusammenhing, das die Herzogin Auguste, die Gemahlin Franz Friedrich Antons von Sachsen-Coburg-Saalfeld, 1804/5 als ersten Adelssitz des alten Ortes etwa an der Stelle des gegenwärtigen Schlossbaues errichten ließ.

Mit diesem Herzogspaar begann die geschickte Heiratspolitik der Coburger Wettiner, die schließlich die Ahnen der meisten Herrscherhäuser in Europa stellten. Nach dem Tode des Herzogs Franz, des Begründers einer der größten Kupferstich-Sammlungen Europas, blieb das Ketschendorfer Schloss Augustens Witwensitz, in dem außer den sieben Kindern der Herzogin-Witwe viele Fürsten zu Besuch weilten: der Erbprinz von Mecklenburg-Schwerin; der wenig geliebte Schwiegersohn Alexander, Herzog von Württemberg; nach der Schlacht von Leipzig ein anderer Schwiegersohn: der Großfürst Konstantin von Rußland; später auch dessen Eltern, Kaiser Alexander I. und Elisabeth von Rußland und der Herzog Eduard von Kent, ein weiterer Schwiegersohn Augustens. Nach dem Tode der Herzogin-Witwe, 1831, wohnte die zweite Gemahlin von Ernst I., Marie von Württemberg, die ihres Mannes Nichte war, gern im Schloss Ketschendorf, das nach des Herzogs Tod auch ihr Witwensitz wurde, bis sie selbst 1860 starb.

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Idyllisch gelegen sind die Teiche im Park vom Ketschendorfer Schloss

2011 © Ulrich Göpfert

Acht Jahre später erwarb die frisch geadelte Freifrau von Stolzenau das herzogliche Empire-Schlösschen mit den dazugehörigen Parkgrundstücken für 100 000 Francs. Das Gebäude, dessen „Umfassungswände“ – nach dem Urteil des Coburger Baurats Georg Rothbart – „größtenteils total morsch“ waren, sollte abgerissen und ein neues größeres und festeres Schloss an seiner Stelle nach Rothbarts Plänen errichtet werden.

Bevor wir auf die Betrachtung des „neuen“ Schlosses eingehen, lohnt es sich wenigstens kurz mit der zu ihrer Zeit weltberühmten Bauherrin zu befassen, in deren undurchsichtiges, abenteuerliches Leben, das Buch „Ketschendorf“ von Otto Friedrich endlich mehr Klarheit bringt. Die Geschichte der Schlösser hat der Autor in chronistischer Form in mühevoller Kleinarbeit meist aus Originaldokumenten erstmalig zugänglich gemacht und versucht, „Die Wahrheit über Mme. Stoltz“, eine biographische Skizze von Arthur Pougin (1909), die noch viele Fragen offen ließ, im einzelnen zu ergänzen und auf historische Stichhaltigkeit zu prüfen.

Madame Rosine Stoltz kann man, sowohl im Hinblick auf ihr sängerisches und darstellerisches Können wie auch auf ihren schwierigen Charakter und ihr oft skrupelloses Geltungsbedürfnis, die „Callas“ des 19. Jahrhunderts nennen. Eigentlich hieß sie Victorine Noel und wurde am 13. Februar 1815 in Paris in bescheidenen Verhältnissen geboren. Mit etwa 17 Jahren hatte sie die Schule für klassische Musik von Charon, dem späteren Leiter der Pariser Oper, absolviert und war Choristin am Theatre de la Monnaie in Brüssel. Über Spa und Antwerpen – jeweils als zweite Sängerin – kam sie 1834 nach Lille, für erste Fachpartien engagiert. Bei ihrem zweiten Antwerpener Engagement hatte sie dann so viel Erfolg, dass der Direktor, der 1835 die Leitung der Brüsseler Oper übernahm, sie mitnahm an dieses hervorragend, renommierte Theater, wo sie erst vor drei Jahren als Chorsängerin unter dem Namen Mlle. Ternaux ihre Laufbahn begonnen hatte.

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Ein Blick in den Park von Schloss Ketschendorf

2011 © Ulrich Göpfert

Jetzt kam sie als neu entdeckter Star Heloise Stoltz zurück. Durch den „olympischen Triumph“, den ihr die Brüsseler Uraufführung von Halevys Oper „Die Jüdin“ bereiteten, wurde die Pariser Oper auf die junge Künstlerin aufmerksam, die sich als ebenso begeisternde Komödiantin wie als hervorragende Sängerin entpuppt hatte. 1837 – mit 22 Jahren – begann sie ihre große Karriere in dem damals glanzvollsten Opernhaus der Welt unter dem von da an beibehaltenen Künstlernamen Rosine Stoltz. Bald lagen ihr Publikum und Kritik zu Füßen. Leider trübt das menschliche Bild der bejubelten Sängerin den Glanz ihres unbestrittenen Künstlertums und schließlich machten ihre Anmaßung und ihre Intrigen ihr Bleiben an der „Grand Opera“ untragbar. Ihr Angebot den Vertrag vorzeitig zu lösen, wurde von der königlichen Theaterkommission – vielleicht wider ihr Erwarten – angenommen, und nach zehnjähriger Zugehörigkeit zur Pariser Oper verabschiedete sie sich nach einer „ruhmreichen, früh erfüllten Karriere“ mit „einem wahrhaften Triumph (1847).

Von dieser Zeit an gab die überall Gefeierte nur noch Gastspiele an den großen Bühnen West- und Südeuropas. Viermal wurde sie durch persönliche Einladung des Kaisers von Brasilien, Don Pedro, an das Staatliche Theater in Rio de Janeiro berufen: 1852, 1853, 1855 und 1859 (mit einem Jahresgehalt von 400 000 Francs). Es scheint sicher, dass die Beweggründe des Herrschers über rein musikalische Interessen hinausgingen. Einmal ließ Don Pedro bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung, in der Mme. Stoltz sang, den Weg von der Wohnung der Sängerin bis zum Theater ganz mit Rosenblättern bestreuen, so dass der Wagen buchstäblich ein Bett von Rosen durchfuhr. Kein Fürst empfing je eine solche Ehrenbezeugung.

Ein inniges Verhältnis muß die Künstlerin auch mit dem drei Jahre jüngeren Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha, verbunden haben, an dessen beiden Hoftheatern sie allerdings nie aufgetreten ist. Es ist auch nicht bekannt, bei welcher Gelegenheit sich die beiden kennen lernten; nur dass Rosine Stoltz „sich ziemlich lange in Gotha bei dem Fürsten aufhielt“. Der Herzog war nicht nur „ein Freund der Kunst und Sängerinnen“, sondern übte die Musik auch selber produktiv aus. Er hat unter anderem die romantische Oper „Santa Chiara“ geschrieben, deren Hauptrolle Rosine Stoltz 1856 an der Brüssler Oper sang.

Nach ihrer Erhebung in den Adelsstand durch Ernst II., 1865 – mit 50 Jahren also, hat sie anscheinend noch ihren Gastvertrag an der Mailänder Scala erfüllt und ist danach nicht mehr öffentlich als Sängerin aufgetreten. Trotz all ihrer überragenden künstlerischen Verdienste, trotz der Erhebung in den Adelsstand wäre Victorine Noel, der unter dem Künstlernamen Rosine Stoltz die Welt einst zujubelte, der Fürsten zu Füßen lagen, heute völlig vergessen, hätte sie sich nicht als steinernes „Mahnmal“ das Ketschendorfer Schloss errichtet. Die Undurchsichtigkeit ihres Charakters, der Züge von verführerischer Anmut, von maßlosem, oft intrigantem Ehrgeiz und kindlich phantastischer Lügenhaftigkeit verband, hat nicht nur ein klares Bild von ihrer Persönlichkeit verhindert, sondern auch ihren Lebenslauf mit vielen Fragezeichen durchsetzt.

Während man über einige ihrer Amouren ganz gut Bescheid weiß – zum Beispiel mit Leon Pillet, dem Leiter der Pariser Oper, und mit Charles Deburau, dem „Pierrot“ der Opera des Funambles (= der Seiltänzer), liegt über ihren Ehen, angeblich drei, völliges Dunkel. Sicher ist jedoch, daß sie 1837 in Brüssel den Advokaten und Administrator des Theatre de la Monnaie, Alphonso Auguste Lescyer, heiratete, der sie später zur Witwe machte.

Die Nachricht ihrer zweiten Ehe – 1872 in der „Gazette musical“ veröffentlicht – fußt einzig auf der vagen Anzeige der Sängerin selbst: „Madame la Comtesse Rosina de Ketschendorf gibt sich die Ehre, Ihnen die Vermählung, die im Ausland geschlossen wurde, mit Herzog Carlo Raimondo Lesignano die San Marino bekannt zu geben“. Die „jungvermählte Herzogin“ hat sich darin zunächst zur „Gräfin“ befördert, und später verleitet sie ihr „Adelstick“ auch dazu, sich als geborene Marquise d`Altavilla – statt geb. Noel, wie es der Wahrheit entsprochen hätte – zu unterzeichnen. In dem sonst recht zuverlässigen französischen Adelslexikon ist kein Geschlecht Lesignano verzeichnet.

  
Einer der Teiche im Park von Schloss Ketschendorf im Sonnenlicht

2011 © Ulrich Göpfert

Ihre angebliche dritte Heirat, 1878, mit Don Emanuel Godoy de Bassano, Princeps de la Paz wird durch die tatsächliche Existenz dieses Fürstenhauses vielleicht etwas wahrscheinlicher. Aber wie dem auch sei, die Bauherrin des Ketschendorfer Schlosses war eine außergewöhnliche Frau, die neben ihren körperlichen Reizen ein großes künstlerisches Können einzusetzen hatte. Auch ihre Liedkompositionen – in einer Sammlung von zehn Melodien herausgegeben – sollen „nicht schlecht“ gewesen sein. Ihr Sohn Karl, der Charles Raymond hieß, ehe er den Titel Freiherr von Ketschendorf führen durfte, mag ein uneheliches Kind gewesen sein. Die Mutter behauptete: „Der Fürst Napoleon Bonaparte, der mich im Exil liebte, ist sein Vater.

Im Alter – sie wurde 88 Jahre – wollte sie anscheinend ihrer unzähligen Lügen und Fehltritte in scheinheiliger Reue mit zum Teil sinnlosen Wohltaten sühnen. Ihr beträchtliches Vermögen hatte sie in einer jährlichen Rente von 75 000 Francs – das waren 5000 Mark monatlich bei vielfacher Kaufkraft der heutigen Valuta – umgewandelt. Doch fast ihr gesamtes Einkommen spendete sie einer „ausgewiesenen“ Kongregation von Mönchen – zu guten Zwecken -, so dass sie bei ihrem Tode, 1903, keinen Centime besaß und auf Kosten der Armenbehörde in Paris im Armengrab beigesetzt wurde. Ihr Sohn war schon vier Jahre vor ihr gestorben und dessen ältester Sohn Ernst bereits 1873 als englischer Staatsangehöriger im Burenkrieg gefallen. Der jüngere Enkel der Sängerin, Arkadius, legte 1913 den Namen von Ketschendorf ab und nahm ebenfalls als englischer Staatsbürger den Namen Kerry an.

Doch nun zurück zu dem Schlossbau, den Baurat Georg Rothbart, der zwei Jahre zuvor das Palais Edinburg in Coburg (steht am Schlossplatz und ist heute Sitz der Industrie- und Handelskammer zu Coburg) schuf, entworfen und innerhalb eines knappen Jahres errichtet hat. 70 Handwerker wurden eingesetzt, um die Arbeiten schnell vorwärts zu bringen. Den Steinhauern stand der Saal im Souterrain des alten Schlösschens zur Verfügung, damit auch bei strengerer Kälte im Winter gearbeitet werden konnte. Der herzogliche Sommersitz, der wenige Meter nördlich des Neubaus stand, wurde nämlich erst im Juni 1869 abgerissen. Aus dem Abbruchmaterial entstand die Coburger Villa in der Oberen Klinge 3, die in der Gesamtanlage und durch die original-verwandte Altane mit ihren klassizistischen Säulen an das alte Ketschendorfer Gebäude erinnert.

Das neue Schloß in aus Sandstein und Ziegel kombinierter Bauweise ist das einprägsamste Beispiel im Coburger Gebiet für den neugotischen Burgenstil des Historismus. Alle vier Seiten sind gleichartig gegliedert: sie werden von achteckigen zinnengekrönten Ecktürmen eingefasst und haben in der Mitte je einen risalitartigen Vorbau mit maßwerkverziertem Treppengiebel. Vor der Südseite erhebt sich über einem Brunnengewölbe eine Loggia mit der darüber liegenden Terrasse vor dem ehemaligen Schlafzimmer der Baronin, während die Säulenaltane der nördlichen Eingangsfront 1960 wegen Baufälligkeit leider abgerissen werden musste. Im Innern erinnert nur noch das Treppenhaus mit den gusseisernen Ziergeländer und dem Blick durch die Maßwerkkirchenfenster und eine Reihe stukkierter Decken an die vornehme Vergangenheit des Gebäudes. Auch „die Maschine“, um die Speisenplatten aus der Küche in die Höhe gehen zu lassen“, auf deren Einbau die Baronin so großen Wert legte, ist noch vorhanden.

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Die von der Baronin für ihren Sohn Karl gestiftete „Karlsquelle“
in der Parkanlage des Schlosses Ketschendorf

2011 © Ulrich Göpfert

Da der Park um einige neu erworbene Grundstücke erweitert wurde und der jetzt verschwundene Gemeindebrunnen dadurch in seinem Bereich lag, stiftete die neue Schloßherrin die nach ihrem Sohn benannte „Karlsquelle“ neben der ehemaligen Schmiede, Wassergasse 1. Außer dieser Quelle erinnern nur noch die Sandsteinwappen im Giebel und am nordwestlichen Eckturm an die Bauherrin und ehemalige Besitzerin. Der Schild zeigt eine Harfe, und der Helm trägt eine Freiherrnkrone und zwei geschlossene Flügel. Der Sinnspruch darunter „Vis in Corde“ und heißt „Kraft im Herzen“.

Schon zwei Jahre nach der Fertigstellung des Schlosses verkaufte Frau von Ketschendorf den gesamten Besitz für 90 000 Francs an den Coburger Stadtbaumeister Julius Martinet. 1872 ging das Schloss in den Besitz des Amerikaners William Tilden, 1873 in den des Kommerzienrates Karl Rudolf Epner aus Berlin über. 1891 erwarb es der israelitische Freiherr von Mayer und 1940 kam es zu einer Zwangsversteigerung wegen der rückständigen Schuld von 145 000 Mark Reichsfluchtsteuer. Die Stadt Coburg erhielt für 45000 Mark den Zuschlag. Im selben Jahr diente das Schloss als Unterkunft für bessarabiendeutsche Rückwanderer, dann bis 1954 als Tbc-Station des Landkrankenhauses Coburg.

Inzwischen hatte Egon Freiherr von Mayer den Familienbesitz durch ein Wiedergutmachungsverfahren zurückerhalten, doch wurde das Schloss nicht von ihm bezogen, vielmehr 1955 wieder an die Stadt Coburg verkauft. Seit 1956 ist eine Jugendherberge in dem burgähnlichen Bau eingerichtet, der innerhalb von 84 Jahren siebenmal den Besitzer wechselte.