Unter der Mauer über die Grenze
Vom Mauerbau bis zur Einheit
1963 gelang Hans-Georg Müller die Flucht aus der DDR. In monatelanger Arbeit hat der damals 20-Jährige mit einem schwerkranken Helfer einen Tunnel in die Freiheit gegraben - mit bloßen Händen. Inzwischen lebt Müller im mittelfränkischen Feuchtwangen, wo er als Arzt arbeitet.
Hans-Georg Müller geht es eigentlich gut, als die Mauer gebaut wird
Die Eltern leben in Dresden. Sie stehen finanziell sicher da, der Vater praktiziert als Zahnarzt. Damals ist Hans-Georg Müller 19 Jahre alt. Er läuft durch Berlin, um sich Bücher für sein Medizinstudium zu kaufen. Da hört er, dass die Stadt geteilt sein soll. Zunächst will er die Geschichten nicht glauben. Erst als er schwerbewaffnete Soldaten anrücken sieht, wird ihm der tödliche Ernst der Situation bewusst: Niemand kommt mehr nach Westberlin, seine Freunde dort wird er vielleicht nie mehr wiedersehen.
Konkrete Fluchtpläne
Durch den Mauerbau werden die Fluchtpläne der Familie Müller dann schnell konkret. Die treibende Kraft ist der Vater. Er findet ein Haus in Ost-Berlin - nahe an der Grenze zu West-Berlin und ohne Keller. Das war wichtig, weil unterkellerte Häuser regelmäßig von Grenztruppen kontrolliert wurden, erzählt Müller. Das Regime war alarmiert, weil kurz zuvor bereits Menschen durch Tunnel aus Ostberlin geflohen waren.
Familienfoto bei der Konfirmation von Hans-Georg Müllers Bruder im Notaufnahmelager Berlin im Jahr 1963. V.l.n.r: Hans-Georg Müller, seine Mutter Johanna, der Lagerpfarrer, den eben konfirmierten Bruder Helmut und Vater Walter Müller
Foto: 2012 © Hans-Georg Müller
Aushub im ganzen Haus versteckt
Mit den Händen graben sich Müller und ein damals 41-Jähriger mitten im Winter rund 50 Meter durch das gefrorene Erdreich. Zweimal stürzt der Tunnel ein, einmal werden die beiden Arbeiter verschüttet. Zunächst verstecken sie den Aushub aus dem Tunnel im Küchenschrank, dann auf dem Dachboden. Zuletzt ziehen sie eine Zwischenwand in das alte Haus in Ostberlin, die den Sand aus dem Tunnel vor kritischen Blicken schützen soll.
Feuerschutz für Flüchtlinge
Am 10. März 1963, kurz nach Mitternacht, ist es dann soweit: Insgesamt 13 Personen steigen in den Tunnel hinab. Den Eingang hinter sich verbarrikadieren sie. Zwei Stunden harren sie in dem feuchten, kalten Tunnel aus. Ein Helfer geht voraus, um eine Polizeistation zu alarmieren. Der Tunnelausgang liegt gerade einmal zwei Meter hinter der Mauer, die Beamten hätten den Flüchtlingen nötigenfalls Feuerschutz geben sollen. Doch soweit kommt es nicht. Die Flucht bleibt unbemerkt. Alle kommen sicher in Westberlin an, darunter auch die vierköpfige Familie Müller
Tränen bei der Wiedervereinigung
In Bonn lernt Müller seine zukünftige Frau kennen. Er studiert Medizin und kommt über Gunzenhausen schließlich nach Feuchtwangen. Dort arbeitet er seit 1978 als Internist. Dass die Mauer einmal fallen würde, war Müller klar, wie er sagt. Er habe nur nicht damit gerechnet, dass es so friedlich ablaufen würde. Am Tag des Mauerfalls fuhr er mit seiner Familie auf die Autobahn, um die Trabis zu zählen. Da seien ihm die Tränen gekommen, sagt er.
Große Gefahr
Für die Müllers ist alles gut gegangen. Wenn der heute 69 Jahre alte Familienvater an die abenteuerliche Flucht zurückdenkt, wird er allerdings nachdenklich. Aus heutiger Sicht würde er seine Familie einer solchen Gefahr wohl nicht mehr aussetzen. Wäre der Tunnel vorzeitig entdeckt worden, wären Müllers Eltern möglicherweise umgebracht, er und sein Bruder in ein Erziehungsheim gesteckt worden.