Der Mönch vom Muppberg

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Der Mönch vom Muppberg

Eine Legende von Emil Herold

Es war in einer Sylvesternacht da saßen die Freunde droben in dem Hüttenhaus über der alten Kapelle und warteten auf das „Neue Jahr.“

 

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Ehemalige Aussichtshütte, die Anfang 1880 erbaut worden war

Repro: Ulrich Göpfert

 

Sonst war`s, wenn sie, dem faschingshaften Lärm entrückt, der drunten sinnlos durch die Gassen tobte und schrie, hoch droben auf ihrem geliebten Götterberg, dem Muppberg, das neue Jahr feierten, auch in ihrem kleinen Kreis lustig und herzlich fröhlich gewesen. Aber an diesem Abend wollte die rechte Stimmung nicht kommen. Das sterbende Jahr war zu schwer gewesen. Schwerer als die Jahre des Krieges und der Revolution. Hader und Wirtschaftsnöte waren, unfassbar wie eine Pest, durch die Lande geschlichen, hatten Paläste und Hütten gestürzt und Fabrikschlöte umgeworfen, und wem die Not noch nicht ins Haus geschlichen war, bei dem hatte ihr knöcherner, totenklappernder Finger doch schon drohend und warnend an die Tür geklopft.

 

    Diese Stimmung hatten sie heute unten in der Stadt lassen wollen, wie den Nebel im Tal. Sie hatten ihr entsteigen wollen. Hier oben auf dem Bergesgipfel glaubten sie sich dem Himmel näher und der Sonne, die sie vom neuen Jahr erhofften. Wohligwarm war`s in der großen Hütte, die sie einst mit hatten erbauen helfen. Aber ihrem Herzen fehlte diese wohlige Wärme. Sie hatten, um ihrer Gefühle Herr zu werden, ihre Gedanken in das neutrale Land alter Zeit auswandern lassen.

 

Hermann, der Freund der Geschichte, hatte davon erzählt, wie einst unsere germanischen Vorväter den seltsamen Sandberg, der aus dem mächtig weiten Talkessel wie eine Insel herausragte, zu ihrem Götterberg erkoren und hier oben auf dem Bergesgipfel Opferfeuer hatten lodern lassen. Mönche hatten dann den Götterberg erobert und kühn wie Bonifatius, der die Wodanseiche mit dem Beil fällte, ohne dass ihn Blitze erschlugen, eine Christenkapelle auf das Heiligtum der Alten gesetzt. „Ein uralter Gedanke der Menschheit“, so fügte der Erzähler hinzu, „so alt wie die Menschheit selber, hatte eine neue Form gefunden: der Glaube, das Bewusstsein, dass die Menschen nicht einmal ein Sonnenstäubchen ist vor dem Allmächtigen. Um die neue schlichte, klare Form haben sich neue Ornamente und Arabesken geschlungen. Mönche haben hier oben ihre Hütte gebaut und haben die Quelle des Berggipfels, die den Alten schon heilig gewesen, unserer St. Ottilia geweiht, der Beschützerin der Augen. Hunderttausende, die krank und blind an Auge und Seele gewesen, haben, frommen Glaubens, die Wallfahrt gemacht zu St. Ottiliens auf dem Muppberg. Sehend wollten sie werden an Auge und Seele. Doktor Martinus hat mit kühner Hand das Brombeergestrüpp, das die alte, schlichte, klare Form umwucherte, auseinander gerissen. Unsere Ahnen haben, unverständig wie die Bilderstürmer, das Kirchlein auf der Höhe zerstört und zerfetzt. Aber heilig geblieben ist uns die Stätte bis auf unsere Tage. Denn wer heraufsteigt zu unserer Hütte und das Auge schweigen lässt in die weiten Fernen, dem muss die Seele sehend werden in schlichtem Gottesempfinden.“

 

   Er schwieg. Schweigen erfüllte den Raum. Nur die alte Uhr tickte und takte, schneller als sonst wie es schien. Als könne auch sie nicht erwarten, dass die letzte Viertelstunde im Sorgenjahr in der Ewigkeit untertauchte.

 

  „Und wie wird`s mit der neuen Weltenwende werden?“ fragte einer im Eck. Das klang wie ein Seufzer.

 

  „Gut, dass wir`s nicht wissen!“ sagte Hermann. „Da ist`s nun schon wieder mitten unter uns, das Gespenst unserer Zeit. Es lässt uns nicht locker. Es ist da hinter jedem Gespräch, wie der schwarze Punkt hinter jedem Satz. Sehnt euch nicht nach den weißen Haaren jenes Alten, der sich mit dem Erbschlüssel in der Tasche in der Neujahrsnacht heraufgewagt hat auf den Kreuzweg hinter der Hütte. Meine Großmutter hat`s  uns Kinder an jedem Neujahrsabend erzählt. Da haben wir vor lauter Gruseln die Bettdecke über den Kopf gezogen. „Der sieht alles, was im neuen Jahr passiert“, hat meine Großmutter erzählt, „wer in der Neujahrsnacht einen ererbten Schlüssel auf den Kreuzweg oben auf dem Muppberg legt und mit dem rechten Fuß darauf tritt, dem erscheint der alte Muppberggeist, der Mönch ohne Kopf, und führt ihm wie einen Film das neue Jahr vor. Aber wehe, wenn der Sehende die Geisterstunde nicht durchhält. Draußen, außer dem magischen Kreis um den Erbschlüssel, lauert der Böse und dreht dem, der aus dem magischen Kreis fliehen will, den Kopf ab. Einmal hat einer aus unserer Familie das Wagnis fertig gebracht. Ein Mann mit robustem Körper und robuster Seele, und als er heimkam, da hatte er weiße Haare. Er hatte seinen eigenen Leichenzug gesehen. Acht Tage später hat er auf dem Totenbrett gelegen. So hat uns die Großmutter erzählt.“

 

   Wieder ging ein Schweigen durch die Hütte. Fast betroffen sahen sie einander an. Aber der Blick eines jeden blieb an dem Gesicht Heinrichs haften. Der hatte, ganz gegen seine Art, am Abend noch kaum ein Wort gesprochen. Seine Augen waren gerötet und Tränen rannen ihm übers Gesicht. „Du weinst, Heinrich?“ fragte Hermann. „Wer mit Tränen aus dem alten Jahr geht, wird im „Neuen Jahr lachen!“

 

Heinrich stand auf. Hastig. Ein bitterer Zug scheuchte die Wehmut aus seinem Gesicht. „Ich bin an einem Menschen irregeworden! An einem Freund! Das macht mich an der Welt irre! Ich glaube an keine Freundschaft mehr!“

 

   Dann schob er hastig und ärgerlich den Stuhl beiseite und trat hinaus in die mondklare Nacht. Von den Dörfern drüben an den Bergen klang Hundegebell herüber und eine Rakete zog voreilig in die Höhe. Drunten lag mit tausend Lichtern die Stadt. Als ob der Himmel mit seinen Sternen herunter gebrochen und über der Stadt hängen geblieben wäre. Wie oft hatte er schon hier oben gestanden und dieses nächtliche Bild in sich hinein getrunken. Denn sie, die Heimat, war ihm der Himmel auf der Erde. Aber heute war`s  ihm so weh ums Herz. Als ob er Abschied nehmen müsse auf ewig von diesem Bild. Als trieb ihn der mächtige Arm der Falschheit aus dem Paradies der Heimat.

 

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Ottilien-Quelle
Repro: Ulrich Göpfert

 

    Mit einem Seufzer wandte er sich weg und ging durch die Büsche hindurch hinunter auf die Stelle, an der einst die Kapelle gestanden hatte. Irgendetwas zog ihn weiter und als der erste Schlag der letzten Stunde im alten Jahr fast erstickte unter dem Schießen und Schreien drunten in der Stadt, stand er am Ottilienbrünnlein. Voll und feierlich klang`s und drang`s vom Turm herüber. Ein Choral. „Nun danket alle Gott!“ Wieder schlichen sich ihm Tränen in die Augen. Seine Seele war voll. Übervoll von Weh und Verzweiflung und Enttäuschung und Mutlosigkeit. „O, lass mich sehend werden, lieber Gott! Lass mich den rechten Weg erkennen in dem „Neuen Jahr!“ Fast wie ungewollt hielt er die hohle Hand unter das Brünnlein. Dann netzte er sich Stirn und Auge mit dem heiligen Wasser. „Mach mir die Augen meiner Seele hell! Ein Schleier liegt vor meiner Seele! Nimm mir ihn weg“ Ottilie, Sankt Ottilia! Nimm mir die Blindheit meiner Seele! Ottilia! Sankt Ottilia!“

 

   Auf einmal fröstelte ihm. Dann schoss ihm das Blut heiß in den Kopf. Ein eigentümliches Gefühl überkam ihn. Ein Gefühl, das sich so seltsam widersprach, halb Angst, halb das Empfinden einer Freiheit, wie er es noch nie gehabt. Als ob er keinen Körper mehr hätte. So leicht fühlte er sich wie der Nebel, der von dem Brünnlein in die Höhe dampfte. Da… ein leichtes Rauschen und Sausen. Als senke sich ein Riesenvogel aus dem Himmel in die Wipfel. Wie durch einen Windwirbel kam Leben in die Nebelschleier, die aus dem Ottilienbrünnlein dampften. Als ob eine unsichtbare Künstlerhand in den Nebeln knete und forme, auf einmal schwebte eine Frauengestalt über dem Brünnlein. Langsam erhob sich die weiße Frau über die Wipfel und nun umspielte das Mondlicht die Gestalt. Sie trug ein großes, aufgeschlagenes Buch in Händen und auf der einen Seite schimmerte, wie ein heller Stern durch weiße Wolken, wie das verschleierte Feuer eines riesigen Opals, ein großes Auge.

 

   Heinrich zuckte zusammen. Das war sie, die er, halb unbewusst gerufen: Sankt Ottilia. So hatte er einmal ihr Bild in einer Kirche gesehen, mit dem aufgeschlagenen Buch in der Hand, aus dem ein feuriges Auge glühte. Das war sie, Ottilia, die Schutzheilige des Auges! Eine Stimme kam aus der Höhe: „Du hast mich gerufen, Menschenkind! Deine Stimme hab` ich gehört unter Hunderttausenden, denn du bist ein Sonntagskind. Es ist eine heilige Stunde. Folge mir, Menschenkind. Ich will dich führen lassen in die Tiefe der Menschenseele. Ich will die Erde gläsern machen vor deinem Auge. Schreckliches wirst du sehen. Aber fürchte dich nicht. Ein guter Geist ist bei dir. Und wenn du wieder heraufsteigst auf diese Welt der Lüge und des Truges, dann erhebe deine Stimme und sprich zu deinen Brüdern. Nur dreimal in hundert Jahren ist`s einem Menschenkind erlaubt, in die Tiefe des Berges und der Menschheit zu schauen. Nach deinem Kommen lechzen Hunderte und  Tausende armer Seelen, die da drunten um ihre Falschheit und Unbrüderlichkeit büßen müssen. Komm!“

 

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Kapelle St. Ottilien auf dem Muppberg
Eine alte Wallfahrt im Coburger Land
Zeichnung von Otto Schlapp

Repro: Ulrich Göpfert

 

   Langsam schwebte die Gestalt bergaufwärts und wo der Saum ihres Nebelkleides die Wipfel streifte, da wurden die Büsche und Bäume wie zu Luft und Heinrich schwebte, selbst ein Geist, der Erscheinung nach. Droben an der Stelle wo einst die Kapelle gestanden, stand die Gestalt still. Wieder ein Rauschen und Sausen von der Höhe. Ein Wirbel packte die Nebelgestalt. Wild wogten die Schleier durcheinander. Das Rauschen und Sausen ward langsam zu Orgelklang und als die Nebelschleier zerronnen waren, da stand die alte Kapelle vor ihm. Licht drang aus ihren Fenstern und auf einmal öffnete eine unsichtbare Hand die Kirchentür.

 

   Heinrich schritt hinein und wie gebannt stand er da. Auf den Stufen vor dem Altar kniete regungslos wie versteinert eine bunte Schar gläubiger Wallfahrer. Am Altar selbst standen, links und rechts, wie aus grauem Sandstein, zwei Mönche, und einer von ihnen trug – ein Gruseln huschte dem Beschauer durch den Körper – den eigenen Kopf in den Händen: der alte Muppberggeist, den schon so viele gesehen, der Mönch ohne Kopf! Ganz im Hintergrund, sich scharf abhebend von dem gelbgrün glühenden Chorfenster, thronte wie auf einer Wolke die Statue der heiligen Ottilia. Sandsteingrau und leblos wie die Bildsäulen der Mönche.

 

   Verängstigt, ergriffen, ratlos stand Heinrich da und starrte auf das seltsame Bild. Auf einmal fing das große Auge auf dem Buche der „Heiligen Ottilia“ zu glühen an und die Glut schlich langsam durch die ganze Bildsäule. Purpurn glühte ihr Mantel auf, golden blitzen die Borten und in das steingraue Gesicht stieg Blut und Leben. Ein paar schwere Atemzüge, ein Recken und Strecken wie das eines Erwachenden und dann schwebte die Heilige herunter in den Raum. Vor der Bildsäule des Mönchleins ohne Kopf machte sie Halt und hob wie segnend die Hände: „Bruder Jacobus! Bruder Jacobus! deine Stunde ist da. Es ist Mitternacht und das Jahr will sich wenden. Sei wieder du! Bruder Jacobus sei wieder Bruder Jacobus!“ Und Leben und Farbe kam in die versteinerte Gestalt. Ein Ruck, und das Mönchlein hob sich den Kopf auf den Hals und machte, sich bekreuzigend, eine tiefe Verbeugung vor der Heiligen. „Hier steht das Sonntagsmenschenkindlein, Bruder Jacobus. Führe ihn wohl hinunter in den Berg. Hinunter in die Sandhölle. Da warten schon hundert  und aberhundert arme Seelen auf das Sonntagskind, das sie von ihren Qualen befreit. Ihre Bußzeit ist abgelaufen.“

 

   Dann hob die Heilige beide Arme segnend über die versteinerte Schar der Frommen, die in der Kirche knieten. Ein Recken und Strecken an allen Enden, ein tiefes, tiefes Atemholen und klang ein alter Choral durch das Kirchlein.

 

   Das Mönchlein aber winkte Heinrich zu sich heran. Freundliche Augen blickten aus seinem Gesicht. „Du wirst Schreckliches sehen!“ sagte der Mönch. „Aber fürchte dich nicht. Vor meiner Hand tut sich alles auf und kein Staubkörnchen wird deine Schuhe treffen, wenn ich bei dir bin. Ich führe dich wieder heraus aus der Tiefe der Sandhölle da drunten. Komm mit!“

 

    Er hob den Arm. Da drehten sich ein paar große Steinplatten im Kirchenschiff wie um eine Angel und drunter kam eine Treppe zum Vorschein. Langsam stiegen sie hinunter. Nach zwanzig Stufen kamen sie in einen gewölbten Raum, in dessen Mitte ein Sarkophag stand, die Seiten aus feinstem Marmor, der Deckel mit einem Relief aus purem Gold. „Das ist Alberada, die Gründerin von Banz. Sie hat das Kirchlein da oben gestiftet. Untreue hat ihr im Leben gedankt. So hat sie sich hier in die Einsamkeit geflüchtet vor der Falschheit der Banzer Mönche.“ Dann strich er mit der Hand über den Sarg und der Sarg ward gläsern vor den Augen Heinrichs. Eine Frau lag darin von wunderschön ebenmäßigen Zügen, in schlichtem Kleid und ohne jeden Schmuck. „Ich hab sie lebend gekannt“, sagte das Mönchlein und seufzte.

 

  Und wieder hob er den Arm. Da sprang ein breiter Spalt in das Gewölbe. „Komm mit, mein Freund!“ Nun schritten sie tiefer und tiefer in den Berg hinab. Immer wieder barsten die Felsen. Dann kamen sie in lockeren, losen Sand. Aber mit jedem Schritt, den das Mönchlein tat, fluteten die Körnchen wie fließend zur Seite und beide schritten unbenetzt wie Christus durchs Meer.

 

  Auf einmal zuckte Heinrich zusammen und ein Gruseln fuhr ihm durchs Haar. Durch die rollenden, rieselnden Sandkörnchen krümmte sich plötzlich wie ein Wurm ein menschlicher Arm heraus und fünf Finger krallten sich wie im wilden Krampf. Das Mönchlein hatte gemerkt, wie Heinrich erschrak. „Du wirst noch mehr sehen, aber fürchte dich nicht!“ und zog ihn mit sich fort. Auf einmal machte der Mönch halt. „Wir sind am Ziel!“ Eine mächtige Schlucht hatte sich aufgetan. Felsen wuchsen, ein Berg im Berg, senkrecht in die Höhe und unten am Fuß bohrte sich ein mächtiges Tor in den Steinberg hinein. „Das ist der Saal der Seligen“, sagte der Mönch. „Da schlafen die Erlösten der Ewigkeit entgegen. Sie, deren Seele gereinigt ist in dem Fegefeuer der Sandhölle. Dann darfst du wählen. Kannst dir, für ewig, den Saal der Seligen wählen. Kannst dich zurückwünschen auf die Erde hinauf. Aber wähle reinen Herzens! Dir bleibt`s überlassen!“

 

  Dann trat das Mönchlein an die innerste Steinwand des Tores und klopfte. Klopfte sieben Mal. Ehern klang das Klopfen. Als ob tausend mächtige Glocken auf einmal schlugen. Nun schob sich die steinerne Wand auseinander. Lautlos und wich, als wäre sie aus Samt. Finsternis gähnte ihnen entgegen. Nur ganz in der Ferne, wie in unendlicher Ferne glühte ein Lichtstreifen. Eine seltsame Farbe. Die Farbe hatte Heinrich nie gesehen. Eine Farbe die im Regenbogen fehlt. Nicht rot und doch rot. Nicht grün und doch grün. Nicht golden und doch golden. Diese seltsame Farbe war nicht Farbe. Feuer war`s. Feuer und doch zart. Die Erscheinung wuchs und wuchs. Als ob die Glut von tausend Sonnen darin glühte. Doch sie tat dem Auge wohl.

 

  „Eure Stunde ist da!“ rief der Mönch in den Riesensaal hinein, der sich weitete und dehnte als wüchse er zum Weltall. „Eure Stunde ist da!“ Nun war’s lebendig in dem unterirdischen Saal. Lebendig von Tausend und Abertausend Menschen. Ein seltsamer Zug lag über den Gesichtern dieser Geläuterten, ein Zug, den Heinrich droben auf der Welt noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Als ob sich ihm tausend Arme entgegenstreckten, so wollte es ihn hineinziehen in den Saal der Seligen. Aber das Mönchlein packte ihn an der Hand: „Komm, erst will ich dir die Sandhölle zeigen!“

 

  Sie schritten aus dem großen Torbogen des Felsenberges heraus und kletterten einen steilen Steig hinauf. An einem breiten Felsenvorsprung machten sie halt. „Und nun sei tapfer Menschenkindlein. Ich will die Erde gläsern werden lassen vor deinen Augen.“ Dann strich er ihm leicht mit der Hand über die Stirn und über die Augenlider… Heinrich tat einen furchtbaren Schrei und brach zusammen. „Es ist freilich schwer für ein Menschenherz“, sagte das Mönchlein bedauernd und half den Zusammengesunkenen wieder auf. Wie von einem schweren Frostfieber wurde Heinrich durchschüttelt. Perlengroß standen ihm die kalten Schweißtropfen am ganzen Körper. „Setz dich auf diese Steinbank!“ sagte das Mönchlein und drückte den Zitternden sanft auf einen Felsenblock.

 

  Wenn Menschen am Ertrinken sind, so heißt es, zieht ihnen ihr ganzes Leben in einer Sekunde noch einmal vor die Seele. Als Heinrich wieder hinüberzuschauen wagte über die Schlucht in den unermesslichen Sandberg, da trat blitzschnell ein Bild aus der Jugendzeit vor seiner Seele. Er saß da vor einer Maikäferschachtel. An die hundert Stück hatte er da hineingestopft und frisches Laub hineingetan, um ihnen ihr Gefängnis angenehm zu machen. Nun hob der den Deckel. Ein wildes Gewimmel und Gewürge war in dem Kasten. Auf dem Rücken lagen die einen und ihre Füße gaukelten nervös in der Luft herum und krallten sich verzweifelt nach einem Halt, an dem sie sich wieder aufrichten konnten. Wie hatte er als Junge seine Freude gehabt an diesem Gewimmel und Gewürge, an dem Gekrappel, an den strampelten Beinen, an dem Durcheinander und Hin und Her der grünen Blätter, die ihnen bald zum Halt, bald zum Verhängnis wurden. Was war ihm das für ein Vergnügen gewesen, wenn sich die Füßchen von zwei, drei Käfern ineinander verfangen und die Tierchen im Ringkampf sich wälzten und wendeten. Wenn einer wieder auf den Füßen stand und eilends dem Gewirr entwischen wollte, da im letzten Augenblick angelte ein Beinchen durch die Luft und zwang den Entwischenden wieder hinein in das Knäuel. Ein ewiger Kampf, ein ewiges Wimmeln und Würgen, Verschütten und sich Befreien. Wenn so ein Tierchen dem Knäuel endlich entwischt, ihm Freiheitskampf schwer atmend die Flügel hob, um endgültig dem Chaos zu entfliehen, da lauerte schon eine Bubenhand, wie eine Hand des Schicksals und schlug den Flieger mit roher Hand zurück in das Chaos von Beinen und Blättern und Flügeln und Körpern. Und von neuem begann der grausame Kampf…

 

  Eine Sekunde nur stand ihm das Jugendbild vor den Augen. Wie ein Verbrecher kam er sich vor, jetzt nach Jahrzehnten, und wild schrie er wieder auf und starrte entsetzt hinüber in das Gewimmel und Gewürge von Armen und Beinen, von Leibern und Köpfen, von Kindern und Greisen, von Männer und Frauen. Wie in dem Maikäferkasten. Aber Menschen. Und statt des Laubes Sand. Rieselnder Sand. Sand, der immer und ewig rieselt. Der Sand es Muppbergs. Hastig und gierig und dann wieder müde und verzweifelt, krallten und gruben sich die Hände durch den Sand. Durch den ewig rieselnden Sand. Wenn so ein paar Hände sich ein paar Finger breit Luft geschaffen hatten vor Mund und Augen und die Brust ausholte zum ersten Atemzug, dann rieselte wieder das tückische Schicksal den Sand hernieder wie Wasser an einem hohen Wehr. So begann der Kampf um eine Handbreit freien Raumes wieder von neuem. Ein grauenhafter, aussichtloser Kampf. Ein ewiger Kampf ewig, wie der ewig rieselnde Sand vom Muppberg. Und die Gesichter der Kämpfenden! Schrecklich! Angstverzerrt, Wutverzerrt. Alle Leidenschaften schrieen aus ihren Augen. Von Zeit zu Zeit kam`s wie ein Wirbelwind in diesen wimmelnden, würgenden, zappelnden und zuckenden Haufen von Leibern und Köpfen und Armen und Beinen und Sand und Steinen. Von neuem gruben und krallten und krummten tausende von Händen in wilden Zuckungen durch den ewig rieselnden Sand. Wo eine suchende Hand auf eine andere Menschenhand stieß, da krallte sie sich fest. Die andere Hand suchte in zuckender Hast nach dem Gesicht des Gegners und krummte sich ein wie die Zähne eines bissigen Hundes. Das Blut färbte den Sand. Ein furchtbarer Kampf. Mann gegen Mann. Blind. Gierig. Voll wilden Hasses.

 

  „So seid ihr da droben!“ schrie ihm der Mönch ins Ohr und seine Augen funkelten vor Zorn. Wie ein Donner drang Heinrich dieser Vorwurf in die Seele. In tiefer Scham schob er die Hände vor die Augen. Er wollte weinen. Aber keine Träne rann ihm herunter. Er hatte sie alle, alle verweint in der einzigen Minute, da er hineingeschaut hatte in die furchtbare Hölle des Sandes.

 

  „Und nun komm!“ sagte das Mönchlein nun wieder freundlich. „Auch für diese armen Seelen ist die Stunde da. Einmal im Jahr darf ich den Sündensand von ihnen nehmen. Einen Tag lang haben sie dann Ruhe vor Sand und Gewissen. Wer von ihnen nun genug gebüßt hat, der darf ein durch das weite Tor in den Saal der Seligen. Wen der Kampf mit dem Höllensand noch nicht geläutert hat, der wird wieder hineingewirbelt in das Chaos, wenn der Gnadentag vorüber ist. Nun will ich das Wort der Gnade hineinrufen in das Chaos von Mensch und Sünde und Sand. Komm!“

 

  Er packte Heinrich an der Hand und führte ihn den Steig hinunter an den großen Torbogen zurück, der in den Saal der Seligen führte. Dort standen wundervolle hohe Lilien. Eine brach sich das Mönchlein ab und hob sie, zur Sandhölle gewandt, in die Höhe „Sand falle und stehe still!“

 

  Auf einmal tosten wie in tausend riesigen Wasserfällen die Sandkörner zu Tal, wild aufstäubend und wie sich selbst verzehrend. Heinrich stand neben dem Mönch. Da sah er auf einmal, wie zwei Frauenhände ein Kindlein aus dem Sandstrudel hoben. Wie eine Ertrinkende, die wenigstens ihr Kindlein noch vom Tode retten will. Im nächsten Augenblick wühlte sich ein Frauenkopf durch den Sand. Ein tiefer Atemzug, dann schrie die Frau auf: „Mein Kind! Mein Kind! Rettet mein Kind! Mein unschuldiges Kind. Lasst mich weiter büßen, aber rettet mein Kind!“ Mit aller Kraft drängte sich die Frau aus den Sandmassen. Dann sprang sie mit dem Kind ein paar Schritte vorwärts und sank dann weinend zusammen. „Mein armes Kind! Mein armes Kind! Ich hab ja gesündigt! Ich! Ich! Ich!

 

  „Sie hat droben ihr Kind vernachlässigt. Gehasst. Es war ihrem Vergnügen hinderlich. Nun liebt sie es. Ihre Sünde sei ihr vergeben!“, sagte das Mönchlein, schritt auf das Weib zu und berührte sie leicht mit dem Lilienstab. „Steh auf, Anna Maria! Deine Sünde ist von dir genommen! Gehe ein zum Saal der Seligen!“ Da sprang die Frau auf. Ein leuchtender Glanz flog übers Gesicht. „Habt Dank! Gütiger Gott, hab Dank! O mein Kind, mein gutes Kind!“ Sie hob das Kind auf, schritt verklärt durch das große Tor in den Saal der Seligen.

 

  Wieder wirbelten aus den Sandströmen ein paar Arme heraus. Dann zwei Köpfe. Zwei Männer waren in wildem Kampf. Wie toll schlugen sie aufeinander los. Wilder Hass lohte aus ihren Augen. Wie ein Tier hing der eine mit den Zähnen in der Wange des anderen. Ein Ruck und sie stürzten ins Freie. Einen Augenblick standen sie verwundert da und schüttelten die Sandkörner von sich. Tief holten sie Atem und dann stürzten sie wieder aufeinander, bis das Mönchlein sie mit einem barschen Wort auseinander trieb. „Der Hass, der aus dem Holz der Liebe ist, der ist der Schlimmste sagte der Mönch. „Die beiden sind droben einmal gute Freunde gewesen. Wenn dieser Gnadentag vorüber ist, die sind die ersten, die sich aufeinander stürzen. Aber nun muss ich meines Amtes walten und nach den armen Seelen suchen, die sich freigebüßt haben. Deine Seele wird nun genug erschüttert sein. Ich will dir einen aus dem Saal der Seligen rufen, der dich kennt. Es ist ein Ahnherr von dir.“

 

  Das Mönchlein strich Heinrich wieder über Stirn und Augen. “Du hast genug gesehen. Und nun höre.“ Dann schritt er in die Halle der Seligen und kam nach kurzer Zeit mit einem Mann zurück, der einen Ratsmantel um die Schultern trug. Freundlich reichte er Heinrich die Hand.

 

  „Du bist Blut von meinem Blut“ Sei mir gegrüßt, mein Sohn. Du bist ein Kind der Gnade. In deine Hand ist viel gegeben. So höre dreimal in hundert Jahren öffnet sich der Berg für ein Menschenkind. Dreimal in hundert Jahren haben die armen Seelen, die da unten im Sande des Muppbergs wühlen und kämpfen und büßen für ihre Sünden und euere Sünden, auf einen Tag Ruhe vor ihrem eignen Grimm und Gewissen. Ruhe vor den ewig rieselnden Sandkörnern ihrer Sünden. Auch ich habe die Qualen einst durchkosten müssen. Ich will sie dir nicht beschreiben. Du hast es gesehen. Mir ist Gnade zuteil geworden und eine Stimme hat mich hereingerufen in diesen Saal, in dem kein Sandkörnchen mehr von den Felsen rinnt. Gnade hab` ich gefunden, weil ich droben mein Leben gewagt und verloren habe um der Brüder willen. Du kennst nun diese furchtbare Sandhölle. Die Sünden gegen die Heimat, die Sünden gegen den Mitmenschen, die eigenen Sünden und die fremden Sünden sind es, die auf diesen armen Seelen da draußen lasten.“

 

  Dann trat der Alte im Ratsmantel aus der großen Pforte hinaus und hob ein paar Sandkörnchen auf. So viel wie drei Finger mit ihren Spitzen aufraffen können. „Kannst du die Körnchen zählen, mein Sohn? Du wirst`s nicht können. Hunderte sind`s, ich will dir`s sagen. Nun siehe diese ganze Hand voll Sand. Tausende sind`s. Zehntausend. Und nun die zwei Hände voll! Und sieh, eine Schaufel voll! Und wie viele Schaufeln voll gehen in einen Wagen! Und wie viel Wagen wären notwendig, um den Muppberg abzutragen. Hunderttausend mal Hunderttausend mal Hunderttausend, so viel Wagen als Sandkörnchen in einen Wagen gehen. Und siehe mein Sohn – seine Stimme wird ganz ernst und eindringlich – siehe mein Sohn, jedes Körnchen ist eine Sünde gegen den heiligen Geist der Heimat und gegen die Menschenbruderschaft. Sieh hier die gelben Körnchen des Neides, die roten Körnchen der Leidenschaft, die schwarzen der Lüge und die weißen der Kraftlosigkeit und Unentschlossenheit. Und sieh: darum ist der Muppberg so hoch! Jede neue Sünde gegen Heimat und Brüder türmt ihn höher. Jede Sünde wird zu einem Körnlein und die größten sind wie Steine und Felsen!

 

  In diesem Augeblick kam das Mönchlein zurück. Er hatte die letzten Worte gehört. „Nun will ich dich auch hellhörig machen!“ sagte er zu Heinrich und strich ihm über Stirn und Ohren. Verwundert schaute Heinrich in die Höhe. Das war wie ein feiner leichter Regen, der auf ein Dach fällt. „Da ist jedes Sandtröpfchen eine Sünde!“ sagte der Mönch. Dann ging`s los wie ein Trommelfeuer schwerer Regentropfen. „Jetzt rufen sie sich droben ein glückliches Neujahr zu. Die Wünsche aber kommen nur von den Lippen. Nicht aus dem Herzen. So wird jeder Wunsch zur Sünde. Und jede Sünde türmt den Berg höher. Hörst du ihn wachsen, den Sündenberg?“

 

  Da mischte sich plötzlich unter das Klatschen ein harter Schlag. „Jetzt hat ein Armer den Armen bestohlen!“ sagte der Mönch. “Jetzt horch auf! Hörst du? Jetzt sitzen zwei an einem Tisch und keiner mag den anderen leiden. Jetzt stoßen sie mit den Gläsern an und trinken sich zu! Hörst du? Und der Klang der Gläser war wie ein Kratzen von hunderttausend Bogen über eine Saite. Eiskalt lief es Heinrich über den Rücken. Dann ein Schlag als ob ein Stein auf ein Blechdach fiele. „Das war ihre Sünde, die auf den Berg aufschlug!“ sagte der Mönch. Kaum war der Knall verstummt, da gab`s einen ungeheueren Krach, wie wenn tausend Geschütze auf einen Schlag ihre Granaten auf einen Punkt niederprasseln ließen, ein Echo, wie von tausend Donnern. Die Felsen bebten und draußen rieselte der Sand wie ein Strom vom Felsenberg. „Jetzt hat ein Bruder dem anderen Bruder die Treue gebrochen!“ sagte das Mönchlein und strich Heinrich wieder über die Stirn und Ohren. „Du hast nun auch genug gehört!“

 

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Der Muppberg

Foto: Ulrich Göpfert

 

  „Aber nun höre mir wieder zu, mein Sohn!“ mischte sich der Alte im Ratsmantel wieder ins Gespräch. „Euere Sünden da droben sind`s die den Berg höher und höher türmen. Die armen Seelen hier untern seufzen unter der Last ihrer Sünden und euerer Sünde. Und wir, die Erlösten, wir können nichts anderes tun, als weinen. Schau, wie euere Quellen aus dem Muppberg fließen. Unversiegbar und stark. Unsere Tränen sind es, die ihr trinkt! Die Tränen, die wir ob euerer Sünden vergießen. Wird es nicht besser da droben bei euch, dann werden die Tränen der Büßenden aus den Quellen fließen. Die Tränen, die sie dann weinen sind Blut! Blut! Erbarmt euch der Armen, die hier unten um ihre Erlösung kämpfen! Wollt ihr nicht hören, dann wird ein Riesensturm kommen und eine Windhose, wie sie die Welt noch nie gesehen. Dieser Wind wird sich hineinbohren in den Gipfel des Berges und wird die Abertrillionen Sündenkörner in die Höhe fegen und nieder wirbeln auf euere Stadt! Und wird euch und euere Sünden decken. Aber nie wird euch dann Erlösung werden. Du bist Blut von meinem Blut. Lass mich keine Tränen mehr um dich weinen!“  

 

  Da trat das Mönchlein wieder an die Beiden heran. „Ich habe versprochen, dass ich dich wieder hinaufbringe auf die Erde. Aber du hast als Gnadenkind die Wahl. Höre, du kannst eingehen in den Saal der Seligen ohne hindurch zu müssen durch die Sandhölle der Sündenqualen. Gib deinem Ahnen die Hand und er wird dich hineinführen in die ewige Seligkeit. Oder gib mir die Hand und ich werde dich hinaufführen auf die Welt. Wähle, den du bist ein Gnadenkind!“

 

  „Wähle gut, mein Sohn!“ sagte der Ahne. Wähle gut, mein Sohn!“ Unentschlossen stand Heinrich da. Ihn zog`s wie mit tausend Armen hinein in die Seligkeit. Dann schüttelte er leicht mit dem Kopf und griff nach der Hand des Mönchleins. „Er soll nicht mehr höher werden, der Berg des Hasses und der Treulosigkeit!“

 

  „Du hast gut gewählt, mein Sohn!“ jubelte der Alte. Da ein Brausen und Sausen, ein Klingen und Jubilieren, dass ihm die Sinne schwanden.

 

  Als er wieder zu sich kam, saß er auf der Bank neben der Ottilienquelle. Eine Rakete zog leuchtend aus dem Tal. Drüben vom Turm klang die Glocke… zwei… drei… vier… Eins! Die erste Stunde im neuen Jahr war in die Ewigkeit hinab gesunken.

 

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Die Schutzhütte im Jahr 1926

Repro: Ulrich Göpfert

 

  Langsam stand Heinrich auf und ging zur Hütte zurück. Sie war voll Jubel und Trubel. Tränen kamen ihm und mit Tränen im Auge erzählte er, was er erlebt in dieser letzten Stunde. Sie hörten zu. Aber sie schüttelten die Köpfe. „Er scheint irregeworden!“ flüsterten sie sich zu.

 

  Und als er die nächsten Tage predigte gegen den Hass und Neid und Falschheit und Treulosigkeit, da hat man ihn verlacht. Und als er nicht müde war zu predigen, da hat man ihn ins Narrenhaus gesteckt.

 

„Er ist irregeworden in der Neujahrsnacht!“

 

Hinweis:

 

Die Legende „Der Mönch vom Muppberg“ wurde verfilmt

Im Rahmen der Sendereihe „Sagen und Geschichten aus dem Coburger Land“, wurde vom  Fernsehsender NEC-TV diese Legende verfilmt. Es wirkten dabei mit: Hannelore Büchner, Isolde Kalter, Joachim Geisler und Ulrich Göpfert. An der Kamera: Arno Fleischmann.

 

Bilder vom Set

 

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Die Mitwirkenden: „Der Mönch vom Muppberg“

V.l.n.r.: Ulrich Göpfert, Isolde Kalter, Arno Fleischmann,
 Hannelore Büchner und Joachim Geisler

Foto: © NEC-TV Arno Fleischmann


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Ulrich Göpfert als Mönch vom Muppberg

Foto:© NEC-TV Arno Fleischmann