Der Alte vom Wald

Eine Erzählung aus dem Thüringer Land


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Foto: Archiv © Ulrich Göpfert

In den Spinnstuben der thüringischen und fränkischen Bergbauern am Rennsteig wurde viel von ihm erzählt; und unter den Waldleuten lebte lange der Glaube an diesen Herrn der Berge, einen mächtigen Waldgeist, der Böses strafte und Gutes lohnte.

So soll es einst geschehen sein, dass in stürmischer Winternacht ein elender alter Mann, um milde Gabe bittend, in den Hütten der Gebirgler einkehrte. Bis in den Mühlenhof gelangte er, trotz des sonst bissigen Hundes, der sich aber winselnd vor dem Bettler verkrochen hatte.

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Foto: Archiv © Ulrich Göpfert

Dieser Hof war der stattlichste des Ortes, wie seine Besitzerin die geizigste und härteste Witwe war. Sie hatte ihren Wohlstand zumeist ihren bösen Eigenschaften zu verdanken, und an ihm hingen genug Tränen und der Schweiß der Ärmsten.

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Illustration von Rudolf Köselitz
Repro: Archiv Ulrich Göpfert

Der Alte bat um ein Brot, denn es duftete im ganzen Haus danach, weil man eben erst frisch gebacken hatte. "Was willst du", keifte die Frau außer sich, "ein Brot - ein ganzes Brot! Bist du ein Narr - oder hältst du mich dafür? Hab selbst nichts als alte Krusten, und die sind hart wie Stein. Geht nur weiter, beim Nachbarn haben sie gebacken, von dorther kommt der Brotgeruch!" Da richtete sich der armselige, gebückte Greis auf, stand erschreckend gewaltig mit flammenden Augen vor der entsetzten Frau, und seine Stimme dröhnte wie Donnergrollen. "Brot, hart wie Stein, hast du - gut, so soll es sein!" Und war verschwunden. Als nun die Geizige in ihre Vorratskammer kam, lagen Steine dort anstatt der frischen Brote. Und sooft sie neue buk, waren sie, sobald sie aus dem Ofen kamen, hart wie Stein.

Sie wäre verhungert, hätte sie nicht da und dort sich ein Stückchen Brot erbettelt, denn nur das von ihr Erbettelte blieb genießbar für sie. So musste die Alte bei manchem Armen, den sie früher ihre Härte hatte fühlen lassen, um ein Ränftlein Brot bitten, und so blieb es bis an ihr Ende.

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Illustration von Rudolf Köselitz
  Repro: Archiv Ulrich Göpfert

Ein andermal ist der Mächtige des Berglandes in einem gar armen Häuslein eingekehrt. Dort saß der Bauer mit den Seinen am Tisch vor einer Schüssel dampfenden Haferbreis. Davon sollten viele kleine Mäuler satt werden und auch etliche große. Doch als der Alte vom Walde eintrat, elend und gebrechlich, vom Frost geschüttelt und mit hungrigen Blicken nach dem Brei, da schob die Frau ihm Sitzschemel und Holzlöffel zu, und der Bauer sagte: "Setzt Euch. Wo neun satt werden, langt` s auch für zehn."

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Foto: Archiv © Ulrich Göpfert

So aß der Bettler mit ihnen aus der Schüssel. Als er aufstand, um zu gehen, saß die älteste Tochter schon wieder fleißig am Spinnrad. Sie sah die nackte, frierende Brust unter dem zerrissenen Hemd des alten Mannes und nahm ihr wollenes Tuch von der Schulter und legte es ihm behutsam um den Hals. Er sagte dem Mädchen leise Dank und strich im Vorbeigehen leicht über das Flachsbündel an ihrem Spinnrad.

Von da an ist der Flachs nie alle geworden, das fleißige Mädchen mochte noch so viel spinnen, und so feinen Faden spann niemand im ganzen Bergland wie sie.

Ebenso wurde die irdene Schüssel, aus der der Bettler gegessen hatte, niemals leer, bis alle satt waren, mochte am Anfang auch noch so wenig darin gewesen sein. So wurde der einfachste Brei in ihr köstlich und wohlschmeckend und so nahrhaft, dass der arme Bauer samt seinen Kindern nie mehr zu hungern brauchte.

Auch einer jungen, gelähmten Frau ist Wunderbares geschehen. Zu ihr kam der Alte und zeigte seine bloßen, in Holzschuhen steckenden Füße. Sie schienen schon halb erfroren, und er bat um Strümpfe. Aber der Mann der Kranken, verbittert durch sein Geschick, ein gelähmtes Weib und nichts als Not im Hause zu haben, knurrte zornig, dass sie selbst nichts hätten als Krankheit und Elend, und ging aus der Stube.

Die Gelähmte aber winkte heimlich dem Bettler und hieß ihn, ihr die weichen Wollsocken von den Füßen zu ziehen; sie spüre ja doch nichts davon, sagte sie weinend, und brauche sie wohl nimmer zum Gehen - aber ihm würde ihre Wärme wohl tun.

Der Alte tat, wie die Frau ihn geheißen hatte, und ließ dabei einen Herzschlag lang seine Hände auf den toten Füßen der Lahmen ruhen. Am nächsten Morgen aber konnte sie auf einmal stehen, konnte gehen und laufen so viel und soweit sie Lust hatte.

Quellenhinweis: Eichhorn-Nelson;
Eine Sammlung zum Teil mündlich überlieferter Thüringer Sagen

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