Eine Erzählung aus Thüringen nach Ludwig Bechstein
Ludwig Bechstein
Um die Verbreitung des Thüringer Sagenschatzes machte sich Ludwig Bechstein (geboren am 24.11.1801 in Weimar) durch seine Forschungen und Sammlungen, wie durch eigene Dichtungen verdient. Bechstein starb am 14.05.1860 in Meiningen.
Ein Wandergeselle trat in ein Bauernhaus im Schaumburger Land in Thüringen und fand die Familie in trüber Stimmung und in Trauerkleidern, denn ihnen war vor wenigen Wochen ihr kleines Mädchen gestorben. Die Bauersleute waren gastfreundliche Menschen und luden den Wanderer ein an ihrem Mittagsmahl teilzunehmen. Man setzte sich nach gesprochenem Gebet zu Tisch, da schlug die Uhr in der Wohnstube zwölf Uhr. Und mit dem letzten Schlag der Uhr ging ganz leise die Stubentür auf, und es trat ein bleiches Kind herein, sah sich nicht um, sprach kein Wort, sondern ging schwebenden Ganges in die Kammer. Niemand sprach ein Wort und auch der Fremde fragte nicht, aber es überlief ihn ein Schauer. Der Wandergeselle blieb noch einige Tage bei der Familie, denn er war Schreiner vom Beruf und konnte sich auf dem Bauernhof mit einigen Reparaturen nützlich machen. Als Lohn erhielt er dafür freie Unterkunft und Verpflegung.
Am zweiten Tag zeigte sich dieselbe Erscheinung; das bleiche Kind kam zur Stubentüre herein und ging schweigend in die Kammer. Gleiches geschah am dritten Tag. Da hielt der Fremde nicht länger an sich, sondern fragte: "Sag mir doch, was ist das für ein Kind, das jeden Mittag, Schlag zwölf, so still durch die Stube und in die Kammer geht?" "Ich weiß von keinem solchen Kind, ich sah noch keins," antwortete der Vater, die Mutter aber begann zu weinen. Daraufhin ging der Fremde zu der Kammertür, öffnete sie ein wenig und blickte in die Kammer. Da sah er das Kind. Es saß auf dem Boden und grub mit den Fingern in einer Ritze zwischen den Dielen und seufzte leise: "Ach das Hellerlein! Ach, das Hellerlein!" Als aber die Kammertür ein wenig knarrte, fuhr das Kind erschrocken zusammen und verschwand.
Der Gast sagte den Bauersleuten was er gesehen hatte und beschrieb die Gestalt des Kindes. Da rief die Mutter schluchzend aus: "Ach Gott, ach Gott! das war unser Kind, das wir vor vier Wochen begraben haben! Warum hat es keine Ruhe im Grab?" Der Fremde gab deshalb den Rat, die Diele aufzubrechen; und tatsächlich fand man darunter ein armseliges Hellerlein, das hatte das Kind in der Kirche in den Klingelbeutel legen sollen, hatte es aber behalten weil es sich eine Semmel kaufen wollte. Zu Hause aber hatte das Kind das Hellerlein fallen lassen, und es war zwischen den Dielen in die Ritze gefallen. Deshalb hatte das Kind keine Ruhe im Grab.
Am Tag darauf warf die Mutter das Hellerlein in den Klingelbeutel, und von nun an kam das Kind nicht wieder. Es hatte seine Ruhe gefunden.
Quellenhinweis: Die Heimat, Nr. 5; 9. Jahrgang; 1910