Am Fuchsbau
Eine Erzählung aus dem 19. Jahrhundert
aus dem Nachbarland Thüringen
Im dichten Hochwald, da, wo die knorrigen Wurzeln von Tannen und Fichten einen kleinen Hügel begrenzen, ist Schelm Reineke daheim. Im geräumigen Kessel führt er mit Frau und Kindern ein beschauliches Dasein und stellt von hier aus mit Vorliebe zur Nachtzeit seine Streifzüge an. Lebendiges Wildbret aller Art, Vögel, Mäuse, Frösche und Käfer werden herbeigeschleppt, und die Mutter lehrt die hoffnungsvollen Sprösslinge, diese Tiere zu fangen, zu quälen und zu verzehren. Bei gutem Wetter liegen die hungrigen Kleinen vor dem Bau und erwarten die Heimkehr der Alten.
Fuchs und Füchsin haben sich die unterirdische Wohnung nicht selbst errichtet; wie sollten auch die Vielbeschäftigten zu solch gewöhnlicher Arbeit sich erniedrigen! Grimmbart, der Dachs, hatte sich im Geklüft kunstgerecht eine Höhle hergestellt, indem er mit seinen krummen, starken Krallen die Erde weg grub und mehrere Ausgänge anlegte. Aber kaum war der scheue Einsiedler eingezogen, so erschien sein Vetter im roten Rock und nötigte ihn mit List und Gewalt aus dem gepolsterten Haus hinaus. Der Gerechte muss auch im Tierreich viel leiden.
In der Nähe des idyllisch gelegenen Dörfchens Geiersthal war es, wo wir vor Jahren einen Fuchsbau aushoben. Der alte Waldhüter Friedrich, der fast zwei Menschenalter hindurch den Forstschutz in der Forstei Neuhaus am Rennsteig ausübt, hatte mit scharfem Auge die Vogelfedern und Hasenknochen bemerkt, die im Moose bleichten, und die von den reichen Mahlzeiten Kenntnis gaben, die Reinecke mit seiner Sippe einnahm. Unter kundiger Führung zogen wir an einem Junitage hinab zum Spinnethal, einem Waldbezirk von eigenartiger Schönheit, der einsam und Welt verloren über dem brausendem Lichteflüsschen sich hinzieht. In den Baumwipfeln sang die Heidelerche ihr wundersames Lied, Kuckucksruf scholl aus der Ferne zu uns herüber, und das lebhafte Völkchen der Meisen zwitscherte und lockte ohne Unterlass im Geäst des Nadelholzes. Anemonen, Sauerklee und Vergissmeinnicht säumten die tiefgrünen Matten die ein winziges Bächlein zur Tiefe eilte.
Bald waren wir am Ziel. Zwei kleine Teckel (Dachshunde) mit sehr kurzen und plumpen, aber starken Läufen, langem Fang und langen Behängen sprangen voraus und waren bald unter lautem Gebell im Gebüsch verschwunden. Vor dem Eingang des Fuchsbaues, den einer der Jäger mit der Hacke etwas erweiterte, blieben sie liegen. Nun wurden die Plätze bei den einzelnen Röhren – es kommen zuweilen sechs, ja acht in Frage – besetzt, und schussfertig standen die Grünröcke im Gehölz.
Der alte Friedrich ermunterte „Männe“, den kleineren Dachshund mit der glänzend schwarzen Behaarung und den rostroten Flecken über den Augen, an der Brust und den Läufen, zum Angriff vorzugehen, und rasch war das furchtlose Tier in den Bau eingedrungen. Dumpfes Gebell erschallt, und in dem verwitterten Gesicht des Alten wetterleuchtete die helle Freude, dass Reinekes zu Hause angetroffen worden waren. Plötzlich erschien der Hund wieder an der Oberfläche.
Fang und linker Behang schweißten, doch war die Kampfeslust des tapferen Teckels dadurch nicht gemindert. Sein Herr streichelte und lobte ihn, und auf den Ruf: „Männe fass!“ ergriff er abermals die Offensive und stürmte mit lautem Hals in die Röhre. Ich blickte gespannt nach der Öffnung – da krachten hinter mir zwei Schüsse, die ein mehrfaches Echo in dem stillen Tal und den jenseits derselben sich erhebenden Bergwänden wachriefen. Reinecke hatte das Feld geräumt, denn rasche Flucht erschien ihm der bessere Teil der Tapferkeit. Und das Glück war ihm hold. An der Stelle, wo er, „der Not gehorchend, nicht dem eigenen Trieb“, ausbrach, stand ein unfertiger Schütze, ein blutjunger Gehilfe, der in der Aufregung des Augenblicks vorbeischoss und zwar zweimal.
Es war kein Freundschaftsblick, den Friedrich dem verdutzten Jäger zuwarf; als aber letzterer auch versuchte, den zweiten Teckel gewaltsam in den Fuchsbau zu nötigen, wurde ihm dies unweidmännische Verfahren kurz und barsch untersagt. Das Dachshündlein verspürte nämlich durchaus keine Lust, in das Reich der Finsternis vorzudringen, und trotzdem es sein Herr am Halsband festhielt und nach der Röhre hinschob, ging es keinen Schritt vorwärts. Zum Glück kam die unermüdliche „Männe“ jetzt wieder zum Vorschein und zwar mit einem allerliebsten Füchslein, das sie aber so kräftig schüttelte, dass es nach kurzer Zeit verendete.
Noch ein zweites und drittes der netten, mit rötlichgrauer Wolle bedeckten jungen Tiere wurde auf diese Weise zu Tode befördert und getötet, ohne dass wir es verhindern konnten. Da legten wir uns für die armen Raubjunker ins Mittel und baten um Gnade für die Bürschlein mit der spitzen Schnauze (in der Jägersprache Fang) den feinen, aufgerichteten Ohren (Lauschern), den kleinen Augen (Lichtern) und dem wolligen Schwanz (Standarte). Friedrich schnitt ein schwaches Fichtenstämmchen ab, wie wir es als Jungen zu unseren Peitschstielen verwendeten.
Er war über und über mit kurzen, dürren, knorrigen Ästchen versehen und ziemlich lang. Dieser Stock wurde tief hinein in die abgegrabene Röhre gestoßen, fleißig gedreht und nach einer Weile hervorgezogen. Siehe, da hing Jung-Reinecke daran wie an einer Leimrute, denn die spitzen Äste hatten sich so in der Wolle des Balges verstrickt, dass kein Entrinnen möglich war. Wir baten um das zierliche Tier, das uns mit den blitzenden graugrünen Lichtern furchtlos anäugte, und unser Wunsch ging in Erfüllung.
Noch ein Füchslein wurde auf eben demselben Weg ans Licht befördert und am Leben erhalten, und wir stellten fest, dass im ganzen fünf Junge im Bau gewesen waren. Der Herr des Hauses auf der Jagd, Frau Füchsin entwischt, wie dumm! Welchen Schaden eine so zahlreiche Räuberfamilie dem Wildbestand zuzufügen vermag, leuchtet ohne weiteres ein. Hasen, Kaninchen, Nestvögel, Fische und Krebse fallen ihr zur Beute. Am Anfang tragen die Eltern den Jungen den Raub zu, aber schon nach zwei oder drei Monaten zieht „das Gewölfe“ (die Kinderschar) selbständig zur Jagd aus und „Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen“.
Fröhlich zogen wir mit in unserem Rucksack untergebrachten Pflegling, der etwa einen Monat alt sein mochte, nach Hause und bereiteten ihm in einer großen, mit Heu ausgelegten Kiste ein molliges Quartier. Nun galt es zuerst die Ernährungsfrage zu regeln. Milch nahm der kleine Strauchdieb gierig an, und auch Mäuse und Käfer verschmähte er nicht, wenn sie lebendig waren. Bald gewöhnten wir ihn an Hundefutter, und so gedieh er in der Gartenhütte, wo wir ihn nachts an die Kette legten, prächtig und erfreute uns durch die Munterkeit seines Wesens und die Zierlichkeit seiner Bewegungen. Er spielte gern und folgte, als er vollständig zahm geworden war, seinem Herrn wie ein Hündchen.
Da gab es in der Folge während der Frühstückspause für die Schuljugend eine große Freude, wenn „Fritzchen“, mit welchem Namen wir den jungen Fuchs getauft hatten, auf dem Schulhof erschien und lustig mit den Jungen, die ihn fütterten, umhertollte. Wenn aber die mehr als hundert Kinder einen Kreis bildeten, so dass er ein Gefangener war, schien es ihm ängstlich zu Mute zu sein. Er rannte unruhig hin und her, sah wohl auch bittend zu seinem Gebieter auf und gab seinem Unmut durch ein leises klägliches „Wau, wau“ Ausdruck. Im Dorf lief er frei umher, und selbst im Wald brauchte er nicht an die Leine genommen werden. Als er indes größer wurde, regte sich in ihm die Raubtiernatur.
Er attackierte Gänse und Enten und biss nach seinem Pfleger, wenn er für seine Unarten bestraft werden sollte. Ein Kaninchen, das sorglos zu den Kohlstauden des Gartens hüpfte, musste seine Vertrauensseligkeit mit dem Leben büßen, und auch eine alte, brave Legehenne blieb von ihm nicht verschont. Da wurde Jung-Reinecke durch gemeinsamen Schiedsspruch zum Tode verurteilt. Er kam aber der Strafvollstreckung zuvor, indem er das Halsband zerriss und in dunkler Nacht das Weite suchte. Wir waren über diesen neuesten Streich unseres Helden nicht aufgebracht, weil es uns im Grunde unseres Herzens doch leid getan hätte, „Fritzchen“, den durchtriebenen Nichtsnutz, erschießen zu müssen.
Quellenhinweis: L. Pfeifer – Die Heimat Nr. 45, 9. Jahrgang, 1911