Joachim Kortner bei einer Autorenlesung
Foto: 2012 © Ulrich Göpfert
An einem Wegrand hatte Mill einen alten Holzkreisel gefunden. Der musste früher einmal schöne Farben gehabt haben, von denen aber jetzt nur noch Reste zu erkennen waren. Ältere Jungen zeigten ihm, wie man die Schnur einer selbstgebauten Kreiselpeitsche in die vorgefrästen Rillen straff hineinwickelt, das Spielzeug dann mit der Peitsche in der Luft entrollt, sodass es schon tanzend auf dem Boden landet, wo es durch weitere Peitschenschläge immer mehr zum Drehen und Tanzen kommt.
Die Abdeckung der Sickergrube für das Pfarrhaus war eine kleine Betonplatte. Auf dieser glatten Unterlage hatte es der Mill schon zu bestaunenswerten Kreiselkünsten gebracht. Auch heute war wieder wunderbares Kreiselwetter - Sonne und vor allem herrliche Windstille.
Sogar ein junger Soldat, der ihm bisher aus einem Fenster des Pastorhauses bei seinen Kinderkünsten zugeschaut hatte, kam heraus, lehnte sich entspannt an die Hauswand und schaute ihm mit Interesse und anerkennendem „Das gutt!“ zu. Aus einer Tasche der pludrigen Uniformhose holte er einen Sonnenblumenkern nach dem anderen hervor, warf sie sich in den Mund, knackte sie zwischen den Vorderzähnen, spuckte die Schalen auf den Boden und schluckte den schnell zermahlenen Kern. Sein Soldatenkäppi hatte er abgenommen und unter die Schulterklappe seiner Uniformjacke gesteckt. Nun drehte er sich noch eine Zigarette, rieb ein Zündholz am Stiefelabsatz und saugte den Rauch tief ein.
Im ersten Stock öffnete sich ein Fenster
Darin erschien eine Frauenhand mit einem Nachttopf, dessen gelber Inhalt sich über die Weinranken am Haus ergoss. Der junge Russe schnellte mit einem riesigen Satz von der Wand weg, wischte sich angeekelt über sein kurzgeschnittenes, blondes Stoppelhaar und schrie mit zornig überschlagender Stimme „Njemetzka Kultura!“ nach oben.
Mit Riesensätzen sprang er die breite Steintreppe zum Haus empor.
Mills Kreisel hatte torkelnd seine letzten Tanzkreise gedreht, war von der Betonplatte gehüpft und lag nun wieder auf der Seite.
Aus dem Pfarrhaus drang angstverzerrtes Frauenkreischen und das zornige Brüllen des Soldaten. Vorsichtig stieg Mill die Treppe hinauf. Der bekleckerte Mann hatte die Tür zum Dachboden eingetreten. Dahinter hatte sich die Frau des SS-Mannes eingeschlossen. Als Mill ganz oben ankam, hörte er, wie seine Mutter auf den jungen Mann besänftigend einredete.
„Du gutt Soldat, Frau nix Hitler, ich waschen Uniform.“
Die Frau stand auf einem Hocker und hatte sich eine Wäscheschnur um den Hals gebunden, die schon an der Einrastung eines Dachfensters festgeknotet war. So sehr zitterte sie am ganzen Körper, dass die Wut des Soldaten langsam verrauchte. Noch am gleichen Tag gab er Hedwig ein Stück Kernseife und einen Stoffbeutel mit seiner bekleckerten Uniform.
Mill ging wieder in den Hof hinunter. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass die Weinblätter unterhalb des Urinauskippfensters schon in einer breiten Spur gelb und braun verbrannt waren. Es ekelte ihn so sehr, dass er sogar seinen Kreisel im Hof vergaß.
Hedwig bekam von diesem Tag an immer mehr Waschaufträge, meistens für ein Stück Kernseife, manchmal für angeschimmeltes Soldatenbrot. Die grünen Schimmelstreifen schnitt sie heraus. Mit etwas Kunsthonig versuchte sie, den alles durchdringenden Geschmack für ihre Jungen erträglicher zu machen. Als Mill sie fragte, ob sich die Frau bedankt habe, schüttelte sie nur den Kopf.
„Die hat keine Herznsbildung.“ „Mama, was issn Herznsbildung?“
Titelbild des Buches „Mamas rosa Schlüpfer
Foto: 2012 © Joachim Kortner
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