Das Unentbehrlichste
Nach einer Erzählung von Ludwig Bechstein
In Thüringen hat vor Zeiten einmal ein König gelebt, der hatte drei gute und schöne Töchter, die er sehr liebte. Prinzen hatte er nicht, aber es war in seinem Reich üblich, dass die Thronfolge auch auf Frauen überging, und da des Königs Gemahlin nicht mehr am Leben war, so stand dem König frei, eine seiner drei Prinzessinnen zu seiner Nachfolgerin auf dem Thron zu bestimmen, und dies musste nicht die älteste Tochter sein. Da er aber seine Töchter alle drei gleich liebte, fiel ihm die Entscheidung schwer. Er ging mit sich zurate, diejenige zu wählen, die den meisten Scharfsinn offenbare. Diesen Entschluss teilte er seinen Töchtern mit und bestimmte seinen bevorstehenden Geburtstag zum Tag der Entscheidung. Es sollte diejenige Königin werden, die ihm "das Unentbehrlichste" bringen würde. Die Prinzessinnen dachten nun darüber nach, was wohl "das Unentbehrlichste" sein könnte!
Foto: 2014 © Ulrich Göpfert
Als der Tag der Entscheidung, der Geburtstag des Königs, da war, brachte zuerst die älteste Tochter ein feines purpurnes Gewand und überreichte es dem König mit den Worten: "Gott der Herr lässt den Menschen nackend in die Welt tragen; aber er hat ihm das Paradies verschlossen, darum ist ihm Gewand und Kleidung unentbehrlich." Die zweite Tochter brachte auf einem goldenen gefüllten Becher liegend ein frisches Brot, das sie selbst gebacken hatte und sprach: "Das Unentbehrlichste ist dem staub geborenen Menschen Trank und Speise, denn ohne diese vermag er nicht zu leben; darum schuf Gott die Früchte des Feldes, Obst und Beeren und Weintrauben und lehrte die Menschen Brot und Wein zu bereiten, die heiligen Sinnbilder seiner Liebe.
Die jüngste Tochter brachte auf einem hölzernen Teller ein Häufchen Salz und sprach: "Als das Unentbehrlichste, mein Vater, erachte ich das Salz und das Holz. Darum haben schon alte Völker den Bäumen göttliche Ehre erwiesen und das Salz heilig gehalten." Der König war über diese Gaben sehr erstaunt und nachdenklich, dann sagte er: "Am unentbehrlichsten ist dem König der Purpur; denn hat er den, so hat er alles Übrige, geht er seiner verlustig, so ist er König gewesen und ist gemein, gleich anderen Menschenkindern. Darum, dass Du das erkannt hast, meine älteste geliebte Tochter, soll Dich nach mir der königliche Purpur schmücken; komm an mein Herz, empfange meinen Dank und meinen Segen!"
Als der König nun seine älteste Tochter geküsst und gesegnet hatte, sprach er zu der zweitältesten: "Essen und Trinken sind nicht immer notwendig, mein gutes Kind, und es zieht uns allzusehr in das Gemeine herab. Es zeigt gleichsam die mittelmäßige Menge an, als große Haufen. Gefällst Du Dir darin, so kann ich es nicht hindern, wie ich Dir auch nicht danken kann für Deine übel gewählte Gabe, doch für den guten Willen sollst Du gesegnet sein." Und der König segnete seine Tochter, aber er küsste sie nicht.
Foto: 2014 © Ulrich Göpfert
Dann wandte er sich der dritten Prinzessin zu, die bleich und zitternd stand und nach dem, was sie gesehen und gehört hatte, ahnte, was kommen würde. "Du hast wohl Salz auf Deinem hölzernen Teller, meine Tochter," sprach der König, "aber im Kopf hast Du keins, lebst aber doch, und folglich ist das Salz nicht unentbehrlich. Salz braucht man nicht. Du zeigst mir Bauernsinn mit Deinem Salz an, nicht Königssinn, und am hölzernen Teller habe ich kein Wohlgefallen. Darum kann ich Dir nicht danken und Dich nicht segnen. Geh von mir, soweit Dich Deine Füße tragen; geh zu den dummen und rohen Völkern, welche anstatt des lebendigen Gottes alte Holzklötze und Baumstöcke anbeten und das verächtliche Salz für heilig halten. Da wandte sich die jüngste Königstochter weinend ab von dem harten Vater und ging vom Hofe und aus der Königsstadt, weit, weit weg, soweit sie ihre Füße trugen.
Sie kam an ein Gasthaus und bot sich der Wirtin an, ihr zu dienen. Die Wirtin war gerührt von ihrer Demut, Unschuld, Jugend und Schönheit und nahm sie als Magd in das Haus. Nachdem sich die Königstochter als sehr fleißig in allen häuslichen Dingen erwies, sagte die Wirtin: "Es ist schade um das Mädchen, wenn es nichts Ordentliches lernt; ich will ihr das Kochen lehren". Die Königstochter lernte alles sehr leicht und kochte bald manches Gericht noch besser und schmackhafter, als ihre Lehrmeisterin selbst. Daraufhin erfuhr das Wirtshaus viel Zuspruch bei den Besuchern, weil dort vortrefflich gekocht wurde und der Ruf der guten Köchin, die noch dazu so jung und schön war, ging durch das ganze Land.
Foto: 2014 © Ulrich Göpfert
Eines Tages wollte sich die älteste Tochter des Königs vermählen und eine königliche Hochzeit sollte ausgerichtet werden. Da beschloss man, die über die Grenzen des Königreiches hinaus bekannte Köchin an den Hof zu berufen, damit sie mit ihrer Kochkunst die Gäste so recht verwöhnen sollte. Außerdem teilten die Herren am königlichen Hof, Marschälle, Erbschenken, Erbtruchsesse, Zeremonienmeister, Kammerherren und sonstige Exzellenzen nicht die Ansicht, die einst ihr allergnädigster Herr, der König, ausgesprochen hatte, dass Essen und Trinken nicht immer notwendig sei, und dass es in das Gemeine herabziehe, vielmehr lobten sie alle gutes Essen und feinen Wein und huldigten, im stillen zumindest, dem alten Sprichwort: "Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen."
Foto: 2014 © Ulrich Göpfert
Das Hochzeitsmahl war köstlich zubereitet und es fehlt an nichts, eine Speise nach der anderen kam auf den Tisch und wurde hoch gelobt. Auch die Leibspeise des Königs wurde aufgetragen, aber als er sie kostete, fand er sie unschmackhaft, seine heitere Miene verfinsterte sich, und er sprach: "Dieses Gericht ist ganz verdorben! Das ist sehr hässlich; lasst die Schüssel nicht weiter gehen und ruft die Köchin herein!" Die Köchin trat in den prachtvollen Saal, und der König redete sie unwillig an: "Du hast mir mein Lieblingsgericht verdorben, meine Freude hast Du mir versalzen, weil Du meine Lieblingsspeise ganz und gar nicht gesalzen hast!"
Da fiel die Köchin dem König zu Füßen und sprach demütig: "Übt Gnade, Majestät, mein königlicher Herr, und verzeiht mir! Wie hätt` ich es wagen dürfen, Euch Salz unter die Speise zu mischen? Hab` ich vordem doch aus dem Mund des Königs die Worte vernommen: Salz braucht man nicht, Salz ist entbehrlich! Salz zeigt nur Bauernsinn an, nicht Königssinn!" In diesen Worten erkannte der König beschämt seine eigenen und in der Köchin seine Tochter und hob sie vom Boden auf und zog sie an sein Herz und ließ die jüngste Tochter wieder an seiner Seite sitzen. Nun wurde die Hochzeit erst recht fröhlich begangen, und der König war glücklich alle seine Töchter wieder bei sich zu haben.
Quellenhinweis: Die Heimat, Nr. 5; 9. Jahrgang; 1910